25. Mai 2024 10:00

Politik Die Entkopplung von Staat und Bildung

Über zwei Strömungen in der Geistesgeschichte

von Karl-Friedrich Israel

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Bildquelle: Ground Picture / Shutterstock „Follow the science“: Hat mit wahrhaft objektiver Wissenschaft nichts zu tun

Professor Michael Esfeld von der Universität Lausanne hat sich in den letzten Jahren als einer der wichtigsten Kritiker des staatlich finanzierten und reglementierten Bildungssystems hervorgetan. In mehreren Publikationen und Vorträgen hat er immer wieder pointiert auf die Kernprobleme eines staatlichen Bildungswesens vom Standpunkt der Philosophie und Geistesgeschichte hingewiesen. Seine Position ist dabei über die Zeit konsequenter, manch einer würde vielleicht sagen radikaler, geworden. Er fordert nicht weniger als die Entkopplung von Staat und Bildung, ganz so, wie einst der Staat von der Kirche entkoppelt wurde, wenngleich diese Entkopplung in vielen Fällen unvollständig war. Professor Esfeld ist der Auffassung, dass die Trennung von Kirche und Staat nicht das Ende der Moral bedeutete, wie einige Kritiker befürchtet hatten. Sie hat lediglich der Instrumentalisierung der Religion durch die Politik entgegengewirkt. Genauso wird die Trennung von Bildung und Staat nicht das Ende der Wissenschaft und des Wissenstransfers bedeuten. Sie wird vielmehr der Politik die Wissenschaft als Machtinstrument entziehen. 

Professor Esfeld identifiziert zwei gegensätzliche Strömungen in der westlichen Geistesgeschichte. Die eine ist die Strömung des Liberalismus, die eng mit der Aufklärung zusammenhängt. Er weist insbesondere auf die Arbeiten Immanuel Kants hin. Sapere aude – „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, so hatte Kant das lateinische Sprichwort übersetzt. Der philosophische Liberalismus erkennt jeden Menschen als Person an, die vernunftbegabt ist. Ein Mensch ist nicht einfach durch äußere Einflüsse determiniert. Er reagiert nicht einfach reflexartig auf Wahrnehmungen, Bedürfnisse und Reize, sondern er kann sich zu diesen äußeren Fakten positionieren, sie bewerten, einordnen, und Handlungsentscheidungen für sich treffen. Der Liberalismus setzt deshalb voraus, dass alle Menschen als Personen mit grundlegenden moralischen Rechten und Pflichten ausgestattet sind. Die freie Gesellschaft, die der Liberalismus anstrebt, ist eine Gesellschaft, in der diese Rechte für alle gleichermaßen respektiert werden. Jeder Mensch hat als vernunftbegabte Person Abwehrrechte gegen Übergriffe in die eigene Lebensführung, sofern diese nicht mit den Freiheitsrechten anderer konfligiert. Andere Menschen haben die Pflicht, die Rechte anderer nicht zu verletzen. Der Mensch ist als Person ein moralisches Wesen, und weil er sich zu seiner Umwelt positionieren und Handlungsentscheidungen treffen kann, trägt er auch Verantwortung für sein Handeln.

Der ideengeschichtliche Gegenspieler des Liberalismus ist laut Esfeld der Platonismus, der in seiner moderneren Spielart als Szientismus bezeichnet wird. Er geht davon aus, dass es unter den Menschen gewisse Eliten gibt, die einen besonderen Zugang zur Wahrheit haben und gewissermaßen besser wissen, was ein gutes und rechtes Leben sei. Bei Platon selbst waren es die Philosophen. Im modernen Szientismus sind es die Wissenschaftler. Sie haben durch ihren besonderen Zugang zum Wahren und Guten ein Recht, vielleicht sogar die Pflicht, in das Leben der anderen einzugreifen und ihre Mitmenschen zu formen. Es gilt kein gleiches Recht für alle Personen, sondern es herrscht eine Hierarchie. Aus dieser Idee entspringt der Anspruch, die Mitmenschen zu besseren Menschen zu erziehen.

Die moderne Wissenschaft erhebt nun aber den Anspruch auf Objektivität. Sie versucht, die Bewegungsgesetze der Materie in Ursache-Wirkungs-Ketten zu systematisieren und zu fassen. Sie ist deshalb keine normative Disziplin. Es ist daher sinnlos, zum Beispiel nach dem Grund für das Gravitationsgesetz zu fragen. Gründe gibt es nur für den handelnden Menschen, der sich das Gravitationsgesetz, wissend oder unwissend, in seinen Entscheidungen zunutze machen kann. Aus der Objektivität der modernen Wissenschaft folgt, dass sich aus ihr keine normativen Handlungsempfehlungen ableiten lassen. Genau hier läuft der moderne Szientismus in einen Widerspruch. Einen besonders drastischen Auswuchs dieses Widerspruchs finden wir im Slogan „Follow the science!“. Der objektiven Wissenschaft kann man nämlich nicht folgen, weil sich aus ihr keine Richtung ableiten lässt, in die man zu gehen hat. Aus objektivem Wissen über Gravitation, Klima oder Viren leiten sich keine normativen Handlungsvorgaben ab. Der Mensch kann sich zu diesem Wissen positionieren und dann Handlungsentscheidungen fällen. Es leitet sich aber keine objektive Vorgabe darüber ab, wie er zu handeln hat. Der Szientismus in seiner schlimmsten Form versucht jedoch genau diese Vorgaben zu machen. Dies gelingt ihm insbesondere durch die unheilige Allianz zwischen dem Bildungssystem und dem Staat.

Das Bildungssystem umfasst Forschung und Lehre, also die Gewinnung neuen Wissens und die Weitergabe bestehenden Wissens. Sobald der Staat beginnt, das Bildungssystem aus Steuern, also aus Zwangsmitteln, zu finanzieren, vielleicht aus hehren Zielen, öffnet sich ein Einfallstor für den Szientismus. Wenn der Staat finanziert, muss er definieren, was Bildung ist. Er muss definieren, welche Einrichtungen Bildungseinrichtungen sind und welche nicht. Er muss differenzieren zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft. Er muss also Vorgaben machen. Solange die beteiligten Menschen vom Geiste des Liberalismus beseelt sind, kann ein solches Zwangskorsett sogar funktionieren. Früher oder später wird Bildung allerdings zu einem szientistischen Machtinstrument verkommen. Der Staat wird die Wissenschaft instrumentalisieren und sich damit gegen die Grundsätze der objektiven Wissenschaft selbst stellen.

Tatsächlich braucht es für Wissenschaft keine Vorgaben. Dass verschiedene Sichtweisen und Theorien miteinander konkurrieren, ist kein Mangel der freien Wissenschaft. Sie ist Kern der Wissenschaft selbst. Es braucht keinen Staat, um zu entscheiden, welche Theorie die richtige und gute ist. Konkurrierende Theorien müssen sich an der Realität messen, nicht am Urteil einer staatlichen Autorität. Durch den Staat verkommen Forschung und Lehre zu Auftragsarbeit und Umerziehung. Auch wenn die komplette Entkopplung von Staat und Bildung heutzutage in weiter Ferne liegt, sollte man darauf hinwirken, dass man sich ihr sukzessive annähert. Echte Bildung erfordert Freiheit und kann nicht auf staatlicher Kontrolle und Zwang gründen.            

Michael Esfeld, Wissenschaft und Freiheit

Michael Esfeld, Land ohne Mut


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