31. Mai 2024 10:00

Technikphilosophie Das düpierte Pony

Die Unbeherrschbarkeit der Welt

von Carlos A. Gebauer (Pausiert)

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Bildquelle: Carlos A. Gebauer Brewdog Dead Pony Club: Wird der Absatz dieses Leichtbieres zusammenbrechen – oder sogar zunehmen?

Vor zwei Wochen hatte ich an dieser Stelle von den unabsehbaren globalen Folgen einer Gesundheitsstörung am Flughafen JFK in New York berichtet („Der überschnelle Computer“). Inzwischen belegt eine weitere Begebenheit, die seit Tagen das ganze Land bewegt, meine These: Je weiter die netzartigen Kausalitäten sind, die sich rund um die kommunizierende Menschheit spinnen, desto unkontrollierbarer, weil unvorhersehbarer geraten die Umstände.

Was in der Sylter Kneipe „Pony Club“ gesungen und auf Handyvideos festgehalten wurde, entwickelte sich von einem winzigen Ereignis unter einer Handvoll Beteiligten zu einem landesweit relevanten Skandal. Statt die ungehörigen Sekunden der alkoholisierten Akteure beschämt wegzuatmen und sich anderen Themen zu widmen, explodierte die Nachricht vom Affront durch den gesamten Medienwald. Und wie in solchen Fällen inzwischen üblich, rief die massive Reaktion ihrerseits weitere Gegenreaktionen hervor. Ein Stein plumpste in das Wasser, aber die Wellenringe schlugen bald an allen Ufern an.

Anders als rein physikalische Kausalitäten aber sind die geistigen Ursächlichkeiten noch weit schwieriger prognostizierbar. Prallt eine Billardkugel gegen eine andere, lässt sich einigermaßen verlässlich vorausberechnen, wie diese andere sich anschließend bewegen wird, wenn man nur alle maßgeblichen Parameter ordentlich berücksichtigt. Was aber gilt, wenn ein Gesang in das Ohr eines menschlichen Kopfs dringt? Hört er es? Versteht er es? Motiviert es ihn? Wozu? Und setzt der Hörende seine Motivation in Taten um? Geraten sie stumm? Oder vernehmlich für andere?

Man kann der sorgfältigste Gastwirt sein, die besten Speisen und Getränke vorhalten, den aufmerksamsten Service organisieren, die liebevollste Homepage pflegen und das eigene Image hegen: Zwei tanzende Gäste – ein singender und ein filmender – können den Namen des Lokals binnen Minuten in Stadt und Land zum Inbegriff eines Exzesses umdefinieren. Das Senden, das Empfangen und das kollektive Werten eines Ereignisses machen Jahre der unternehmerischen Konzeption zunichte. Oder auch nicht. Man weiß es nicht. Man wird es sehen. Der Ablauf ist unvorhersehbar und also unbeherrschbar.

Die Pony-Club-Geschichte macht bei allem deutlich, was die aktuelle Sorge all jener Politik ist, die mit Zensurmaßnahmen die Kontrolle über das weltweite Internet behalten möchte. Wird das Pony düpiert, verliert es seine Aura. Ein Düpierter wird zum Narren gehalten und hinter die Fichte geführt, alles Weitere entzieht sich seinem eigenen Verstehen, und handele er noch so logisch. Etymologisch ist das Wort „düpieren“ mit dem Wiedehopf verbunden, von dem das Wörterbuch der deutschen Sprache mitteilt: „Der Wiedehopf gilt als ein dummer Vogel mit auffälligem Verhalten.“

Die erwartbaren und die unerwartbaren Konsequenzen des Sylter Gesanges lassen sich in diesem Sinne als „auffällig“ beschreiben. Und die Aufgabe für jeden, der den gesellschaftlichen Frieden erhalten möchte, lautet dahin, eine angemessene und weithin akzeptierte Reaktion zu zeigen, Manchmal, so scheint es mir, ist ein opportun unterlassener Ordnungsruf der Lage insgesamt dienlicher als eine überlaute Disziplinierungsforderung.

Zwei Erinnerungen kamen mir, als ich von den Sylter Gesängen und den diskutierten Reaktionen hörte. Die eine liegt fast fünfzig Jahre zurück, als ein eher unbeliebter Vertretungslehrer meiner Schulklasse sein Unverständnis über deren Verhalten mit den Worten „Bei euch piept’s wohl?“ auszudrücken versuchte. Plötzlich erschall ein gesamthaftes „Piep, piep!“ aus allen Kindermündern, die sich köstlich ob dieses Effektes freuten. Der Autorität des Erziehers diente dieser Hergang nicht. „Ihr werdet schon noch sehen, was ihr davon habt!“, drohte er gefährlich diffus. Dann aber endete schon jäh seine Vertretungszeit.

Die andere Erinnerung ist weitaus jünger. Ich stand in einem Supermarkt in Irland und kämpfte mit mir, ein unbekanntes Bier zu erwerben: „Dead Pony Club“-Ale. Damals entschied ich mich gegen den Kauf – aber für ein Foto. Möge dem unschuldigen Pony-Wirt erspart bleiben, seine fleißige Gastgeberarbeit einstellen zu müssen. Anders gesagt: Hoffentlich überlebt das Pony diesen Ritt!


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