03. Oktober 2024 06:00

„Die“ Wahrheit Wissenschaft als neue Religion

Wo bleibt der freie Diskurs?

von Olivier Kessler

von Olivier Kessler drucken

Artikelbild
Bildquelle: Chatcharin Sombutpinyo / Shutterstock Beispiel „menschengemachter Klimawandel“: Die falsche Behauptung eines wissenschaftlichen „97-Prozent-Konsens“

Der unglaubliche Anstieg unserer Lebensstandards seit der industriellen Revolution ist historisch beispiellos. Die Produktion von Nahrungsmitteln wurde nicht zuletzt dank technologischen Fortschritten wie Düngemittel und Traktoren viel ergiebiger, sodass heute wesentlich mehr Menschen ernährt werden können als vor 200 Jahren. Die Hygienestandards und die Medizin haben sich massiv verbessert, sodass die Menschen heute länger leben. Unsere Arbeitsplätze haben sich zunehmend vom landwirtschaftlichen und industriellen Sektor hin zum Dienstleistungssektor verschoben, was ebenfalls auf neue Technologien zurückzuführen ist, dank derer wir weniger lebensnotwendigem Komfort mehr Aufmerksamkeit schenken können. In unserem Alltag spielen technologische Gadgets eine immer größere Rolle.

Dies alles ließ unsere Begeisterung für Technologie und Wissenschaft ins Unermessliche steigen. Nicht mehr Gott weist uns den Weg zu einem guten Leben, sondern die Wissenschaft mit ihren beweisbaren Fakten.

Dieser unbändige Glaube an die Wissenschaft hat dazu geführt, dass bestimmte Hypothesen gar nicht mehr infrage gestellt werden (dürfen) und dass alle Aussagen, die von wissenschaftlichen Autoritäten geäußert werden, unkritisch geschluckt werden. Jene, die es dennoch wagen, die Thesen zu hinterfragen, werden dann mit allerlei wüsten Begriffen (wie zum Beispiel „Wissenschaftsleugner“) verleumdet – fast so wie die „Ketzer“, die es einst wagten, die unhinterfragbaren Wahrheiten der Kirche anzuzweifeln. So wurden im Namen der Wissenschaft zunehmend Dogmen und Glaubenssätze installiert, die man als „Wissenschaftsgläubiger“ unkritisch zu akzeptieren hat, wenn man nicht von den Massenmedien verleumdet werden will.

In unserem wissenschaftlich-technischen Zeitalter stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von (politischer) Entscheidungsfindung und wissenschaftlicher Erkenntnis zu gestalten ist. Die Technokratisierung der Politik wird von vielen Meinungsmachern als unaufhaltsame Entwicklung dargestellt. Es werden mit Verweis auf Aussagen von Forschern und Studien Sachzwänge behauptet, die ein bestimmtes Eingreifen des Staates als „alternativlos“ erscheinen lassen. Besonders augenscheinlich sind diese Tendenzen aktuell im Bereich der Gesundheits- und der Klimapolitik.

Wer die behaupteten Sachzwänge bezweifelt, wird zunächst als „Wissenschaftsleugner“ (und je nach Thema auch als „Corona-Leugner“ oder „Klimaleugner“) abgestempelt und anschließend aus der öffentlichen Debatte „gecancelt“. Es sei solchen Kritikern abhandengekommen, etwas anzuerkennen, das nicht verhandelbar sei. Es gelte, das zu akzeptieren, was die Wissenschaft bewiesen habe.

Wer sich gegen diese Notwendigkeit stelle, handle verantwortungslos. Solchen „Leugnern“ dürfe man keinesfalls auch noch eine Plattform bieten. Soziale Medien sind deshalb bestrebt, Beiträge, die sogenannten „wissenschaftlichen Befunden“ widersprechen, umgehend zu löschen oder sie zumindest mit „Fake News“-Warnhinweisen zu diskreditieren. Und in vielen Massenmedien erscheinen Gegenthesen meist gar nicht erst – wohl aus Angst, selbst als „Wissenschaftsleugner“ abgestempelt zu werden und damit als unseriös zu gelten.

Das Hinterfragen, Anzweifeln und Erheben von Widerspruch erscheinen aus der Perspektive, wonach wissenschaftlich angeblich alles Relevante geklärt sei, nur als lästig. Es sei schlichtweg unnötig, weiter über etwas zu diskutieren, worüber bereits Klarheit herrsche. Unnötiger Zweifel stehe einer raschen Umsetzung des wissenschaftlich Empfohlenen nur im Weg, womit wertvolle Zeit verloren ginge. So wird beispielsweise unter Einforderung eines Klima- oder Gesundheitsnotstands gewarnt, es müsse sofort etwas unternommen werden, sonst sei es zu spät.

Doch wer oder was ist „die Wissenschaft“ überhaupt? Wer entscheidet, welche der vielen Studien nun Gewicht im öffentlichen Diskurs erhalten, welche Fachdisziplinen für eine konkrete Fragestellung als relevant erachtet werden, welche Methode die geeignete ist? Wer wählt die sogenannten „Experten“ aus, die Sachzwänge behaupten und der Politik angeblich „wissenschaftlich“ begründete Handlungsanweisungen erteilen? Kann die Wissenschaft überhaupt verbindliche Vorgaben machen, wie die Politik oder der Einzelne auf bestimmte Phänomene reagieren muss? Das sind Fragen, die in der öffentlichen Debatte viel zu wenig diskutiert und beleuchtet werden – gerade auch, weil selbst solch kritisches Hinterfragen fälschlicherweise als „Leugnen“ fehlgedeutet wird.

Die Instrumentalisierung der Wissenschaft für politische Zwecke ist eine Gefahr für liberale Gesellschaften. Der Einzelne soll mit Hinweis auf „wissenschaftliche Erkenntnisse“ bis ins Kleinste kontrolliert und verwaltet werden, so als ob die Wissenschaft ein für alle Mal festlegen könnte, was als sakrosankt zu gelten hat und nicht mehr hinterfragt werden darf. Ein solches Verständnis hat mit der ursprünglichen Bedeutung von Wissenschaft nicht mehr viel zu tun: „Wissenschaft“ wird so zu einer quasireligiösen Autorität erhoben, anstatt sie als eine unkorrumpierbare Methode und einen unbestechlichen Prozess der Annäherung an die Wahrheit zu sehen. Die Verfechter eines derartigen Wissenschaftsverständnisses plädieren für den neuen Imperativ „Glaubt der Wissenschaft!“ – ohne die Absurdität ihrer Forderung zu erkennen.

Der Philosoph Karl R. Popper (1902–1994) argumentierte, Wissenschaft setze gerade nicht unhinterfragbare Glaubenssätze, sondern Thesen voraus, die falsifiziert werden könnten. Wissenschaft basiert demnach auf einem Wettbewerb der Ideen und widerstreitenden Theorien, die sich bewähren müssen. Jeden als „Wissenschaftsleugner“ zu bezeichnen, der die vorherrschenden „wissenschaftlichen Erkenntnisse“ hinterfragt und nicht einfach unkritisch akzeptiert, ist also weder wissenschaftlich noch mit dem Pluralismus einer offenen Gesellschaft vereinbar.

Vielmehr dient der Diffamierungsbegriff des „Leugners“ dazu, unliebsame Stimmen, die der eigenen Weltanschauung widersprechen, mundtot zu machen. Der Begriff des „Leugners“, der gerade auch aufgrund seiner ursprünglich einzigartigen Verwendung bei der Abstreitung oder eben „Leugnung“ des Holocausts besonders emotional aufgeladen ist und die Beschuldigten als pietätlos erscheinen lässt, wird wohl gerade auch vor diesem Hintergrund bewusst gewählt, um Andersdenkende geistig in eine Ecke zu stellen, mit der diese nichts zu tun haben wollen.

Natürlich sollten Meinungen von Experten möglichst vorurteilsfrei angehört werden. Selbstverständlich sollten politische Entscheidungen wissenschaftliche Erkenntnisse miteinbeziehen. Dabei darf jedoch weder die Vielfalt der wissenschaftlichen Diskurse außer Acht gelassen werden, noch darf man sich hinter vermeintlichen „Sachzwängen“ verstecken.

Eine offene Gesellschaft zu verteidigen bedeutet, die vielfältigen Ansichten und Bedürfnisse friedlich miteinander in Einklang zu bringen. Voraussetzung dafür ist ein freier Diskurs, nicht eine moralisierende „Cancel Culture“ auf der Basis von „Leugner“-Beschuldigungen, weil damit manipulativ eine Wahrheitshegemonie durchgesetzt und alle Andersdenkenden stigmatisiert werden. Sie sollen als „wissenschaftsfeindlich“ diffamiert werden, damit man sich nicht mehr mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen braucht. Dieser Diskurs besteht nicht nur aus den Beiträgen ausgewählter Spezialisten, sondern aus all den Argumenten, Haltungen und Einstellungen, aus denen sich eine öffentliche Meinung über Vermittlungsprozesse unabhängiger Medien bilden kann.


Sie schätzen diesen Artikel? Die Freiheitsfunken sollen auch in Zukunft frei zugänglich erscheinen und immer heller und breiter sprühen. Die Sichtbarkeit ohne Bezahlschranken ist uns wichtig. Deshalb sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Freiheit gibt es nicht geschenkt. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit.

PayPal Überweisung Bitcoin und Monero


Kennen Sie schon unseren Newsletter? Hier geht es zur Anmeldung.

Artikel bewerten

Artikel teilen

Kommentare

Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.

Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.