Fortschritt versus Rückschritt(?): Wohin führt uns der technokratische Progressivismus?
Die Vorteile eines natürlich-evolutiven Wandels
von Olivier Kessler
Die Gesellschaft wird von Politanalysten gerne in zwei Lager aufgeteilt: die Konservativen und die Progressiven. Dabei ist aus der Sicht der meisten Beobachter völlig klar, wer hier unsere Sympathien verdient: Weil die Progressiven für Fortschritt stünden, die Konservativen hingegen für Stillstand oder Rückschritt, müssten wir bedingungslos die Progressiven unterstützen, wenn wir uns eine bessere Zukunft wünschten. Doch ist die Angelegenheit wirklich so simpel?
Zunächst einmal müssen wir uns bewusst werden, dass der Begriff „Fortschritt“ heute sehr positiv besetzt ist. Der Grund dafür ist die unglaubliche Entwicklung in den letzten 200 Jahren, die in der Menschheitsgeschichte beispiellos war. Der Wohlstand hatte sich verdoppelt und dann nochmals verdoppelt und nochmals und nochmals. Noch nie in der Historie ging es so vielen Menschen weltweit so gut. Progressive nehmen in Anspruch, für diesen Fortschritt verantwortlich zu sein. Und das stimmt gewissermaßen auch. Dass der Wohlstand zunächst in Europa und dann auch weltweit immer weiter ansteigen konnte, hat gemäß Historiker Ralph Raico (1936–2016) vor allem damit zu tun, dass die Regierungen in Europa die Marktakteure aufgrund eines intensiven politischen Wettbewerbs nicht mehr so stark einschränken konnten wie zuvor. Liberale Progressive hatten hier sicherlich eine wichtige Rolle gespielt bei der Verteidigung der individuellen Freiheit vor kollektivistischen Kontrollgelüsten.
Aber es ist eben wichtig zu verstehen, dass sich heute auch Kräfte als „progressiv“ labeln, die dieses Prädikat überhaupt nicht verdienen, weil sie sich Methoden bedienen, die nachweislich für die meisten Menschen nicht zu Fortschritt, sondern zu Rückschritt führen.
Genau genommen bedeutet der Begriff „Fortschritt“ nicht einmal zwingend, dass die Entwicklung eine positive sein muss. Fortschreiten bedeutet lediglich, dass man nicht stillsteht und man irgendwohin gehen möchte. Doch über die Richtung ist damit noch nichts ausgesagt. Auch nicht darüber, ob es den Menschen tatsächlich besser ginge, wenn man woandershin ziehen würde. Die Annahme, dass alle sogenannten Progressiven für das Gute stehen, ist also zu hinterfragen.
Im Umkehrschluss bedeutet der Begriff „konservativ“ auch nicht zwingend, dass eine Entwicklung zu etwas Besserem verhindert oder gar ein Zurück zu etwas Schlechterem angestrebt wird. Natürlich ist das eine Möglichkeit, aber es muss eben nicht so sein. Genauso gut könnte ein Konservativer mit Recht argumentieren, dass man bewährte Institutionen wie etwa das Privateigentum, die Marktwirtschaft und den Föderalismus nicht über Bord werfen sollte, weil dies zu einer Verschlechterung der Verhältnisse führen würde.
Die Beschreibung einer politischen Bewegung oder Partei als „progressiv“ oder „konservativ“ kann daher durchaus in die Irre führen, weil die sogenannten „Konservativen“ eben auch den Fortschritt im Sinne haben könnten – und die sogenannten „Progressiven“ mit ihrer Politik genauso einen Rückschritt bewirken könnten.
Konservativ im schlechten Sinne des Wortes – also als Verhinderungsideologie, die sich gegen eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse stellt – ist jemand dann, wenn er zu politischen Mitteln greift, wie etwa Technologiemoratorien und -verboten, um eine von ihm mit Argwohn betrachtete Technik zu vereiteln. Es ist nicht nur so, dass er die Technologie selbst nicht benutzen möchte und sich deshalb dafür entscheidet, entsprechende Produkte und Dienstleistungen nicht zu beziehen (das wäre eine liberale Haltung, weil abweichende Ansichten respektiert werden). Vielmehr möchte er andere unter Androhung und Anwendung von Gewalt davon abhalten, entsprechende Technologien zu entwickeln oder benutzen.
Progressiv im negativen Sinne können Bewegungen und Parteien sein, denen der Wandel nicht schnell genug gehen kann und deshalb zu politischen Mitteln wie Subventionen oder Förderprogrammen greifen, um die aus ihrer Sicht wichtigen Technologien, Produkte oder Dienstleistungen voranzutreiben. Auch hier wird zur Gewaltandrohung oder -anwendung gegriffen, um Mitmenschen Steuergelder abzuknöpfen oder ihnen freiheitseinschränkende Regulierungen aufzudrücken. Ob der Drang zur Gewaltandrohung und -anwendung aus konservativem oder progressivem Motiv erfolgt, ist unerheblich. So oder so ist ein solches Vorgehen unethisch, asozial und überheblich.
Die Herangehensweise der technokratischen „Progressiven“ bei allen Problemen lautet: Wir finden die beste Lösung und setzen diese überall durch. Doch dieses staatliche Erzwingen einer bestimmten Lösung beseitigt das Wissen der vielen, das unter anderem über den marktwirtschaftlichen Preismechanismus zum Ausdruck kommt. Staatsinterventionen zur Forcierung einer bestimmten Zukunftsvision unterdrücken die unterschiedlichen Bewertungen und verschiedenen Herangehensweisen, verunmöglichen die unzähligen Problemlösungsversuche durch Millionen von Menschen und ersetzen diese dezentralen Prozesse durch die Einschätzung einer kleinen Gruppe von Politikern und Funktionären. Es kommt zu einer enormen Reduktion an Wissen, was das Hauptproblem einer jeden Planwirtschaft ist und tendenziell zu schlechteren Ergebnissen führen muss – und eben nicht zu Fortschritt.
Es ist eine Frage, ob jemand den Fortschritt mag oder nicht. Eine andere Frage ist es, ob jemand Fortschritt mit offenem Ende zu akzeptieren bereit ist. Ist man gewillt, jedem Einzelnen seine Freiheiten zu lassen, damit alle experimentieren, Neues ausprobieren und nach eigenem Gutdünken investieren und unternehmerisch tätig werden zu können – auch wenn man nicht weiß, was das Endresultat sein wird? Denn nur dies ist die Art von Wandel, der natürlich-evolutiv erwächst und eben nicht von oben verordnet wird. Nur ein solcher ermöglicht den Fortschritt auf überraschende Art und Weise – und es war in erster Linie dieses überraschende Element, das dabei geholfen hat, unsere Lebensstandards in den letzten rund 200 Jahren massiv anzuheben. Niemand hat dies vornherein am Reißbrett so geplant.
Viginia Postrels führt uns in ihrem Buch „The Future and Its Enemies“ vor Augen, dass sowohl die Konservativen, die den Status quo verteidigen, als auch die progressiven Technokraten eine gemeinsame Eigenschaft haben: Sie sind gegenüber einem Wandel mit offenem Ende feindselig eingestellt. Sie wollen beide keinen Wandel, der aus Millionen von Experimenten, also aus Versuch und Irrtum entsteht, sondern höchstens einen, der von politischen Planern herbeigeführt und gelenkt wird. Sie beide wollen kontrollieren, was nicht kontrolliert werden kann. Für beide Gruppen ist das Ziel der Stillstand: Die eine Gruppe will den Stillstand in der Vergangenheit, die andere den Stillstand in der Zukunft.
Die entscheidende Unterteilung der Lager verläuft also nicht zwischen Konservativen einerseits, die die Vergangenheit mit staatlichem Zwang zementieren wollen, und den technokratischen Progressiven andererseits, die mit staatlichem Zwang die Zukunft gestalten wollen. Vielmehr verläuft der Graben zwischen Dynamisten und Statisten. Suchen wir nach Statik, also einer regulierten, durchkonstruierten Welt? Oder heißen wir die Dynamik willkommen, eine Welt also, in der stets Neues geschaffen und entdeckt wird? Schätzen wir Stabilität und Kontrolle? Oder die Evolution und das Lernen? Glauben wir, dass der Fortschritt eine Blaupause braucht, also sozusagen von unfehlbaren und allwissenden Experten erdacht und geplant werden kann? Oder sehen wir ihn als einen dezentralisierten, evolutionären Prozess, der nicht einem übergreifenden Plan folgt? So gesehen sind sich etatistische Konservative und technokratische Progressive ähnlicher, als ihnen lieb ist.
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