Wohlstand: Wie mit dem Armutsbegriff Schindluder betrieben wird
Brauchen wir den Staat, um den „Armen“ zu helfen?
von Olivier Kessler
Die Unterstützung der „Armen“ wird von breiten Kreisen als eine der hauptsächlichen Staatsaufgaben angesehen. Doch wenn von Armut gesprochen wird, klammert man meist eine entscheidende Frage aus: Ist die Rede von relativer oder absoluter Armut? Meist beziehen sich die Politiker – ohne es offen zu benennen – auf die relative Armut, die in den meisten Fällen gar nichts mit echter Armut zu tun hat, um einen invasiven Zwangsumverteilungs-Sozialstaat zu rechtfertigen. Es ist hiermit meist irgendein Prozentsatz der Bevölkerung gemeint, der über die Gesamtbevölkerung gemessen am wenigsten verdient oder am wenigsten Vermögen hat. Selbst wenn es der Gesellschaft als Ganzes blendend geht und die Lebensstandards dieser angeblich „Armen“ massiv anwachsen, reden die Politiker einfach weiterhin von „Armut“, die staatlich bekämpft werden müsse.
Doch eine so verstandene „Armut“ verschwindet nie. Sie kann nie verschwinden. Denn es gibt immer irgendeinen Prozentsatz der Bevölkerung, der am wenigsten von allen verdient oder besitzt. Eine solche Armutsdefinition ist widersinnig und irreführend. Sie hat kaum einen anderen Zweck, als Mitleid gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe und Missgunst gegenüber „den Reichen“ zu erzeugen, um diese Emotionen politisch für den eigenen Machterhalt auszuschlachten.
Sinnvollerweise kann von „Armut“ nur dann die Rede sein, wenn die von Armut Betroffenen sich elementare und überlebenswichtige Güter nicht leisten können. Es geht also um eine absolute Betrachtung, die nichts mit dem Verhältnis zu anderen zu tun hat. Bei dem ständigen Gerede über „Armut“ geht es in Wahrheit lediglich um eine Kritik an der materiellen Ungleichheit. Doch ungleich verteilte Güter sind in einer freiheitlichen Gesellschaft eine unvermeidbare Begleiterscheinung. Und bei dem verbissenen Fokus auf Ungleichheit geht vollkommen vergessen, welche unglaublichen und beeindruckenden Fortschritte bei der Bekämpfung der weltweiten (absolut gemessenen) Armut erzielt worden sind. Laut Angaben der Weltbank haben relativ freie internationale Märkte allein seit 1990 über einer Milliarde Menschen geholfen, der Armut zu entkommen – insbesondere in Entwicklungsländern. Mussten im Jahr 1990 noch 37,1 Prozent der Weltbevölkerung mit weniger als 1,90 Dollar pro Tag auskommen, ist dieser Anteil heute auf unter zehn Prozent gefallen (die Inflation wurde dabei mitberücksichtigt). Durchschnittlich fast 130.000 Menschen am Tag sind also seither der extremen Armut entflohen, obwohl die Weltbevölkerung im gleichen Zeitraum um zwei Milliarden wuchs. Auch die Raten von Analphabetismus und Kindersterblichkeit sind in der gleichen Periode um die Hälfte gefallen.
Viele glauben, dass unser Wohlstand naturgegeben sei und es in der Politik lediglich darum gehe, diesen gerecht zu verteilen. Dabei ignorieren sie, dass unsere Vorfahren in einen Zustand der materiellen Armut hineingeboren wurden und diesem erst einmal entkommen mussten. Sie hatten über viele Millionen Jahre hinweg mit Hungersnöten, schlimmen Seuchen, gefährlichen Raubtieren und weiteren widrigen Umständen zu kämpfen. Wie schaffte es ein Großteil der Menschheit, die Armut hinter sich zu lassen?
Um diese Prozesse besser zu verstehen, lohnt sich ein Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, ein Mann – nennen wir ihn Robinson – wird auf eine einsame Insel angeschwemmt, auf der keine anderen Menschen leben. Es gibt dort lediglich Pflanzen und wilde Tiere. Robinson hat keine Kleider, keine Nahrung, keine Werkzeuge, kein Dach über dem Kopf – befindet sich also sozusagen im Naturzustand, in den unsere Vorfahren hineingeboren wurden. Das Einzige, was Robinson hat, sind seine baren Hände, mit denen er es schafft, einen Fisch pro Tag zu fangen, um so knapp zu überleben. Doch in der Nacht friert er und die Raubtiere auf der Insel stellen eine ständige Bedrohung dar.
Wie kann Robinson nun seine Lebensumstände verbessern? Er könnte sich dazu entschließen, ein Fischernetz zu knüpfen. Doch dafür braucht er erst einmal Zeit, die er sich dadurch schaffen kann, indem er während einiger Tage immer ein kleines Stückchen des gefangenen Fisches zurücklegt (spart), bis er nach ein paar Tagen einen ganzen Fisch auf der Seite hat. Jetzt kann er es sich leisten, einen Tag ohne das Fischen zu verbringen. Dank seiner Ersparnisse verhungert er nicht. An diesem Tag kann er nun die nötige Zeit investieren, um ein Netz anzufertigen. Mit dem Netz schafft er es, pro Tag neu sieben Fische zu fangen statt, wie zuvor, nur einen. Seine Produktion ist ergiebiger geworden, sein Wohlstand gewachsen.
So muss er nun nur noch einen Tag pro Woche fischen und kann sich die restlichen sechs Tage anderen Dingen widmen, wie der Anfertigung eines Speers, um sich gegen wilde Tiere zu wehren, oder dem Bau eines Hauses und so weiter. Dieser Prozess der Wohlstandsbildung beginnt also mit dem Sparen (Fisch wird auf die Seite gelegt). Es wird (Zeit und Ressourcen) investiert und dadurch letztlich Kapital (Werkzeuge) gebildet, das die Produktion steigert. Um auf diese Weise Wohlstand zu bilden, ist im Übrigen kein besteuernder, bevormundender und umverteilender Staat vonnöten. Besteuerung würde lediglich die Ersparnisse mindern und damit den Prozess der Wohlstandsbildung erschweren.
Der zweite Weg zum Wohlstand kommt ins Spiel, wenn weitere Menschen hinzukommen, mit denen Robinson kooperieren könnte. Sagen wir, eines Tages wird Julia angeschwemmt, die besonders gut darin ist, auf Bäume zu klettern und Äpfel zu pflücken. Sie schafft sieben Äpfel pro Tag, wenn sie sich voll und ganz aufs Äpfelpflücken konzentrieren kann. Wenn sie sich jedoch halbtags noch dem Fischen widmen müsste, würde sie nur drei Äpfel und einen Fisch schaffen. Also schlägt sie Robinson vor, dass sich beide je auf das spezialisieren, was sie besonders gut können, um anschließend miteinander zu tauschen. So erhalten beide am Ende des Tages mehr Güter, als sie es ohne die Hilfe des anderen geschafft hätten. Diesen Weg zum Wohlstand ist jener der Spezialisierung, Arbeitsteilung und des freiwilligen Tauschs. Man merke: Auch hierfür ist kein zwangsumverteilender Wohlfahrtsstaat vonnöten, sondern höchstens ein Minimalstaat, der das Eigentum und Leben des jeweils anderen vor Aggression und Betrug schützt. Aber ein überregulierender Staat, der Robinson und Julia Vorschriften macht, was getauscht werden darf, wie und wie viel sie miteinander tauschen dürfen und wie viel Prozent des Umsatzes sie davon an Politiker und Bürokraten abgeben müssen, behindert auch diesen Prozess der Armutsüberwindung.
Und was im Kleinen gilt, das gilt natürlich auch im Großen. Die anonyme Großgesellschaft ist zwar wesentlich komplexer als eine Insel mit zwei kooperierenden Personen. Doch die Prozesse der Wohlstandsbildung bleiben dieselben. Ebenso bleibt gültig, dass Staatsinterventionen, die nicht dem Schutz von Leben und Eigentum dienen, die Armut vergrößern, im Vergleich zu einem Zustand, in dem der Staat nicht eingreift. Das zeigt sich auch in diversen internationalen Ländervergleichen wie etwa dem Index für wirtschaftliche Freiheit. Die freiesten 25 Prozent aller Länder mit den mildesten Staatseingriffen wiesen 2022 ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 48.241 Dollar auf, die unfreiesten 25 Prozent dagegen kamen nur auf 6.542 Dollar. Die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung in den freiesten Ländern erwirtschafteten ein Pro-Kopf-Einkommen von 14.204 Dollar, während die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung in den unfreiesten Ländern lediglich 1.736 Dollar verdienten. Damit verdienten die ärmsten zehn Prozent in den freiesten Ländern mehr als das Doppelte als die Durchschnittsbevölkerung in den unfreiesten Ländern. Im unfreiesten Viertel sind 31,5 Prozent der Bevölkerung von extremer Armut betroffen (1.90 Dollar oder weniger pro Tag), während es im freiesten Viertel aller Länder lediglich zwei Prozent sind.
Fazit: Ein interventionistischer Regulierungs- und Umverteilungsstaat bekämpft die Armut nicht. Er fördert sie.
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