17. Oktober 2025 06:00

Sexualität und Freiheit – Teil 10 Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats

Friedrich Engels’ Irrtum

von Stefan Blankertz drucken

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Bildquelle: Bilal Kocabas / Shutterstock Die Amazonen – ein Volk von Kriegerinnen: Nur in den griechischen Mythen lebendig?

Die Geschichte der Menschheit beginne mit dem universellen Matriarchat. Mit dieser These rüttelte der Schweizer Anthropologe Johann Jakob Bachofen 1861 an den Grundfesten des Patriarchats, das sowohl im Abend- wie im Morgenland sich als die natürliche und ursprüngliche Form der gesellschaftlichen Ordnung deklarierte. Bachofen nannte es zunächst deutsch „Mutterrecht“ und altgriechisch „Gynaikokratie“, bevor es dann in Gegenüberstellung zum Patriarchat als „Matriarchat“ bezeichnet wurde.

Einer derjenigen, die Bachofens Theorie aufgriffen, war der Marx-Freund Friedrich Engels, zunächst in seiner Schrift „Anti-Dühring“ (1878) und dann in „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ (1884). Engels integrierte Bachofens Theorie in seine Version des Sozialismus. Seine Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte sah so aus: Im Ursprung herrschte Kommunismus, insbesondere festgemacht an der „Weibergemeinschaft“. Dabei spielt (psychoanalytisch interpretiert) der patriarchalische Traum vom unbegrenzten Zugang zu Frauen eine große Rolle, aber das nur nebenbei. Aufgrund von Arbeitsteilung, die eine wirtschaftliche Entwicklung über die reine Produktion von Subsistenz hinaus erst möglich macht, ergibt sich laut Engels das Privateigentum inklusive des „Eigentums“ an einer (oder mehreren Frauen) und damit auch die soziale Ungleichheit. Die soziale Ungleichheit wiederum erfordert einen Apparat zum Schutz der auf dem Markt reich Gewordenen gegenüber den auf dem Markt Benachteiligten. Dieser Apparat ist der Staat. Gewalt, vermerkt Engels im „Anti-Dühring“ ausdrücklich, spiele bei dieser Entwicklung keine Rolle. Nur die Ökonomie sei Motor der Entwicklung. Diese These stellte Engels ganz bewusst gegen die anarchistische Theorie der Staatsentstehung aus einem Eroberungs- und Gewaltverhältnis heraus.

Die von Engels vorgelegte Rekonstruktion der menschlichen Entwicklung vom Urkommunismus zur Klassenherrschaft des Staats gilt bis heute als marxistischer Standard, obwohl es mein marxistischer Doktorvater, der Ethnologe Christian Sigrist, war, der mich früh darauf aufmerksam machte, dass die Rekonstruktion, die Engels vorgelegt hatte, sowohl ethnologisch falsch als auch unmarxistisch sei. Nach Marx gibt es keine Entstehung und Entwicklung der staatlichen Herrschaft ohne Beimischung von Gewalt.

Heute kann man sagen, dass es faktisch keinen Hinweis darauf gibt, dass alle menschlichen Gesellschaften ursprünglich matrilinear oder matrizentrisch sind, um den unpräzisen Begriff des Matriarchats durch ethnologisch exakte Begriffe zu ersetzen. Ein Matriarchat im Sinne einer Frauenherrschaft hat es geschichtlich nicht gegeben (wenn auch in Patriarchaten bisweilen Frauen an die Spitze eines Staats gelangten oder gelangen). Matrilinear sind Gesellschaften, in denen die Vererbung über die mütterliche Linie läuft, matrizentrisch solche, in denen der Mann in die Familie der Frau folgt. Es gibt auch Mischformen der Vererbung, in denen manche Güter an die Söhne, andere an die Töchter vererbt werden. Menschliche Gesellschaften ohne jede sexuelle Exklusivität (wie bei den nächsten Verwandten der Menschen, den Bonobos), also mit dem, was Engels „Weibergemeinschaft“ nannte, sind nicht bekannt. Matrilineare und matrizientrische Gesellschaften sind vermutlich immer in der Minderheit gewesen; überdies sind solche Ethnien kleiner als patrilineare und patrizentrische Gesellschaften.

Sodann ist es nicht wahr, dass patrilineare und patrizentrische Gesellschaften grundsätzlich herrschaftlich, matrilineare und matrizentrische Gesellschaften dagegen herrschaftsfrei (akephal) seien. Alle Gesellschaften beginnen als herrschaftsfreie. Die Herrschaftsfreiheit wird in diesen segmentären Gesellschaften durch die Institution der verwandtschaftlichen Beistandspflicht aufrechterhalten. Da alle mit allen verwandt sind, bedeutet dies, dass jeder, der Opfer eines Angriffs ist, der entweder seine Person oder sein Eigentum schädigt, Anspruch auf Beistand hat. Falls er und seine ihm beistehenden Verwandten in Reaktion auf den Angriff überreagieren und von dem Angreifer mehr fordern, als ihnen zur Wiedergutmachung zusteht, machen sie den Angreifer zum Opfer, das dann seinerseits Anspruch auf verwandtschaftlichen Beistand hat. Es ergibt sich eine Balance, in der niemand den anderen überflügeln kann. Diese Balance führt dazu, dass Konflikte tendenziell eher durch Mediation gelöst werden – diese Mediatoren waren der Ursprung des Richteramtes. Richter – Mediatoren – verfügten über keinerlei hoheitliche Rechte und wirkten ausschließlich über die Güte ihrer Urteile. Aufgrund seines Marxismus spielte Sigrist die Tatsache herunter, dass in diesen herrschaftsfreien Gesellschaften – zusammengehalten durch das, was er „regulierte Anarchie“ nannte – sehr wohl schon ein Eigentumsrecht galt und dies in einer sehr strikten und unbedingten Weise; aber obwohl eher versteckt, so ist auch diese Entgegensetzung zu Engels bei ihm zu finden. Denn ohne den Eigentumsbegriff kann man gar nicht bestimmen, wer ein Opfer ist und in welcher Höhe eine angemessene Wiedergutmachung zu erfolgen hat.

Die regulierte Anarchie der akephal-segmentären Gesellschaft funktionierte über die Jahrtausende, und ihre letzten Reste sind erst vor Kurzem weitgehend ausgemerzt worden (in den Kriegen in Afghanistan und in Somalia) und heute nur noch an wenigen Orten zu finden. Doch der Staat hat rund achttausend blutige Jahre auf diesem Weg zurückgelegt. Der Grund für die Staatsentstehung liegt in einer systemischen Begrenzung der regulierten Anarchie. Sie hat die Verwandtschaft von allen mit allen zur Voraussetzung, eine Voraussetzung, die natürlicherweise in jeder Ethnie ursprünglich gegeben ist. Bei einem Zusammenstoß verschiedener Ethnien funktioniert die regulierte Anarchie freilich nicht. Allerdings ergibt sich nicht automatisch aus einem solchen Zusammenstoß ein Staat. Im Normalfall weicht die unterlegene Ethnie aus und beide Ethnien erhalten die Herrschaftslosigkeit aufrecht. Anders kommt es, wenn ein Ausweichen nicht möglich ist; dies ist vor allem dann der Fall, wenn eine nomadisierende auf eine sesshafte Ethnie stößt. Die Sesshaften haben große Schwierigkeiten, auszuweichen; sie sind gegebenenfalls bereit, den Frieden durch Tributzahlungen zu erhalten, wenn sie sich nicht im Kampf verteidigen können. Aber selbst wenn sie im Kampf gewinnen, droht es, dass die erfahrenen Kämpfer eine interne Eroberung durchführen. Dazu trägt nicht nur ihre Kampferprobung bei, sondern auch die Tendenz, dass im Kampf Loyalitäten aufgebaut werden, die die verwandtschaftliche Beistandspflicht außer Kraft setzen.

An dieser Stelle gibt es dann doch ein kleines Trostpflaster für die Theoretiker des Matriarchats: Aus matrilinearen, matrizentrischen Gesellschaften sind keine Staaten hervorgegangen, schon allein deshalb, weil sie aufgrund ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit wenig Chancen hatten, in einem Waffengang obsiegen zu können. Darüber hinaus sind Mütter natürlicherweise weniger bereit und in der Lage, einen bewaffneten Konflikt anzugehen. Allerdings gibt es inzwischen tatsächlich archäologische Hinweise auf wehrhafte Frauengesellschaften. Dennoch gehören Amazonen weitgehend ins Reich der Mythen – und dem Mythos zufolge waren die Amazonen kinderlos, konnten sich also nicht als Volk konstituieren und reproduzieren.


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