Sexualität und Freiheit – Teil 8: Wider die Natur?
Teil 1: Homosexualität

Die Widernatürlichkeit der Homosexualität war lange Zeit (aber nicht in der Antike) das Argument sowohl für deren moralische Verwerflichkeit als auch für deren Strafbarkeit.
Was heißt hier „widernatürlich“? Auf welche Natürlichkeit verweist die Negation? Geht es darum, dass Homosexualität in der außermenschlichen Natur nicht vorkomme? Diese Aussage wäre falsch, und keiner musste bis zur modernen biologischen Verhaltensforschung warten, um das zu wissen. Im Mittelalter nennt Thomas von Aquin, Augustinus zitierend, bekannte Fälle (wobei nicht alle Arten, die er nennt, richtig klassifiziert sind; aber das ist ein hier nicht bedeutsames Detail). Oder geht es darum, dass die Funktion der Sexualität bei der Fortpflanzung als deren Natur im Sinne von „Wesen“ angesehen wird? Jedoch wies Thomas von Aquin selber darauf hin, dass unter den Menschen die Sexualität eben nicht auf die Fortpflanzung reduziert werden könne. Für den Menschen ist diese Reduzierung widernatürlich. In seiner Abhandlung über die Homosexualität kann Thomas dann allerdings doch mit nichts weiter aufwarten als mit deren angeblichen Widernatürlichkeit.
Aber es kommt noch dicker. Schauen wir in seine Abhandlung über die Frage, ob Jungfräulichkeit erlaubt sei. Richtig gelesen, er fragt, ob sie erlaubt sei. Denn unzweifelhaft kann sie auf dem Hintergrund, dass die Fortpflanzung natürlich und für die Arterhaltung notwendig ist, nur als widernatürlich gekennzeichnet werden. Nun greift Thomas tief in die Trickkiste der dialektischen Weise der Argumentation. Sicherlich, gesteht Thomas (wiederum Augustinus folgend) zu, wäre Jungfräulichkeit, wenn alle oder viele Menschen (Menschen, Jungfräulichkeit bezog sich auf Frauen ebenso wie auf Männer) diesen Lebensweg beschritten, widernatürlich und für die natürliche Arterhaltung schädlich. Überdies könne kein Mensch auf natürliche Weise jungfräulich bleiben, gerade weil Sexualität der Gang der Natur ist. Nur aus Gottes Gnade heraus sei dies möglich. Und Gott würde schon darauf schauen, dass er nicht mehr Menschen die Gnade der Jungfräulichkeit schenken würde, als es für die Arterhaltung in der jeweiligen Situation tragbar sei. Mit dieser Argumentation freilich bricht die Natürlichkeit als Maßstab oder Kriterium, um Richtig von Falsch zu unterscheiden, vollständig zusammen.
In Reaktion auf die Stigmatisierung der Homosexualität als widernatürlich begann im 19. Jahrhundert die Gegenbewegung, die für Homosexualität die Natürlichkeit reklamierte. In diesem Zusammenhang bedeutete dann Natürlichkeit wiederum etwas ganz anderes, nämlich dass die Neigung zu Homosexualität eine natürliche Veranlagung im Sinne des Erbguts sei. Ob jemand homosexuelle Neigungen habe, beruhe nicht auf seiner Entscheidung, sondern sei ihm durch die Gene in die Wiege gelegt. Die Frage der Erblichkeit der Homosexualität ist bis heute nicht abschließend geklärt. Unabhängig davon überzeugt das Argument nur bedingt. Die Neigung mag erblich sein, was jedoch nicht heißt, dass das Ausleben der Neigung keine Entscheidung wäre. Zudem wäre, wenn sich herausstellen sollte, dass irgendeinem kriminellen oder sozialschädlichen Verhalten eine Erbanlage zugrunde liegt, dies kein Argument, ein solches Verhalten zu akzeptieren. Für die Frage, ob ein Verhalten rechtmäßig ist, kann die Natur keine Antwort geben, schon darum nicht, weil Recht eine spezifisch menschliche Instanz ist, die in der außermenschlichen Natur nicht vorkommt.
Auf dem Hintergrund der These der Erblichkeit der Homosexualität hat die Soziobiologie die Frage aufgeworfen, wie in einer Natur, die auf die größtmögliche Verbreitung des jeweils „egoistischen Gens“ ausgerichtet ist, ein Gen überdauern könne, aufgrund dessen eine Verbreitung des Gens nicht stattfindet. Diese Frage macht allerdings nur Sinn bei exklusiver Homosexualität, die tatsächlich nicht so häufig auftritt. Sei’s drum. Die soziobiologische Antwort lautet, dass ein Gen, das zur (exklusiven) Homosexualität veranlasst, dann evolutionär überdauern kann, wenn das homosexuelle Individuum als „Helfer am Nest“ naher Verwandter fungiert und somit die Verbreitung eigener Gene dadurch sicherstellt, dass zum Beispiel die Geschwister größeren Reproduktionserfolg haben. Diese These klingt recht clever, aber sie lässt sich empirisch kaum erhärten – weder in der außermenschlichen Natur noch beim Menschen gibt es eine regelmäßige oder wenigstens verbreitete Neigung von Homosexuellen, die Rolle des „Helfers am Nest“ zu ergreifen.
Eine Rückzugsposition der Auffassung, die Homosexualität moralisch ablehnt, in einem gesellschaftlichen Kontext, in der sie nicht mehr mehrheitsfähig ist, stellt die bereits ältere Verführungsthese dar: Homosexualität dürfe allenfalls im Verborgenen ausgelebt werden; auf keinen Fall dürfe für sie „Werbung“ gemacht werden, um die zarte Jugend vor Verführung zu bewahren. Diese Position hat es in sich. Denn sie entfernt sich völlig von dem Hinweis auf Natürlichkeit. Vielmehr muss sie unterstellen, dass viele oder sogar die Mehrheit der Menschen, insbesondere der jungen, dann zu Homosexuellen werden, wenn man sie darauf hinweist, sie sei möglich und erlaubt. Wir müssten dieser Auffassung nach umgekehrt annehmen, dass homosexuelles Verhalten natürlich sei, demgegenüber nur der soziale Zwang zur Heterosexualität eine solche Orientierung in die nachwachsende Generation pflanze. Gegen eine solche Annahme spricht die Empirie wie die Biologie. Wenn wir aber davon ausgehen, dass sowohl biologisch als auch sozial Heterosexualität als Normalfall vorliegt, macht die Verführungsthese keinen Sinn mehr. Die Vorstellung, dass ein Heterosexueller dann sofort das Ufer wechselt, falls er textlich oder bildlich mit Homosexualität konfrontiert wird, steht ohne Fundament da.
Die Verführungsthese ist der wahrscheinlich gefährlichste Feind der Freiheit. Alle Bestrebungen, Zensur in Wort, Schrift und Bild auszuüben, basieren auf der These, die Öffentlichkeit müsse vor der Konfrontation mit Inhalten geschützt werden, die sie zu einem Verhalten animieren, das den gerade Herrschenden missfällt. Eine Form dieser Bestrebungen sind gegenwärtig zum Beispiel die Maßnahmen gegen die „Delegitimierung des Staats“. Indem ich dieses Beispiel anführe, zeige ich, dass die Verführungsthese als Grundlage von Zensur-Bestrebungen in den politischen Lagern aller Himmelsrichtungen und Farben Urstände feiert, sofern sie sich an der Macht befinden oder diese anstreben. Jeder empört sich über die Verführungsthese und über die aus ihr abgeleiteten Zensur-Bestrebung, wenn es um einen Inhalt geht, den er begrüßt (oder dem er zumindest neutral gegenübersteht); jeder bemüht sie, insoweit er den infrage stehenden Inhalt ablehnt, vor allem, insoweit er ihn moralisch verwerflich findet. Eine Position der Freiheit erfordert, Zensur-Bestrebungen, egal, gegen welche Inhalte sie gerichtet sind, zurückzuweisen. Eine solche Position geht von mündigen Menschen aus, die sich selbst bestimmen und die sich nicht von außen bestimmen lassen.
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