Sexualität und Freiheit – Teil 7: Wie natürlich ist die Familie?
Glanz und Elend der ältesten Institution der Menschheit

Die Natürlichkeit der lebenslangen monogamen Einehe, die der Klein- oder Kernfamilie zugrunde liegt, habe der mittelalterliche Philosoph und Kirchenlehrer Thomas von Aquin bewiesen, statuierte Papst Johannes Paul II. 1993 in der „Enzyklika Veritatis splendor“. Dies konnte er nur darum so lakonisch in den Raum werfen, weil er sich ziemlich sicher war, dass aufgrund des desolaten Zustands der Thomas-Editionen niemand sich der Mühe unterziehen wird, die Aussage zu prüfen.
Die Beweisgründe nennt die Bulle keine, auch keine Stellen bei Thomas, die sie enthalten. Liest man bei Thomas selbst nach, reibt man sich seine Augen; denn dort findet man nicht, was man erwartet. Thomas schreibt, „natürlich“ sei dem Menschen irgendeine Form der Gemeinschaft, wie sie sich aus der Notwendigkeit ergibt, für die lange Zeit zu sorgen, die das Aufwachsen des Nachwuchses beim Menschen beansprucht. Auch bei Tieren würde die Brutpflege zu gewissen familienähnlichen Gemeinschaften führen, wenn eine solche Notwendigkeit vorliegt. Die genaue Form, die diese Gemeinschaft beim Menschen annehmen würde, ergibt sich laut Thomas aus den „positiven“ Regeln oder Gesetzen, die kulturell und religiös vorgegeben werden.
Um diese Aussage richtig verstehen, einordnen und bewerten zu können, müssen wir hinzunehmen, was Thomas unter Recht und was er unter Natur fasst. Das natürliche Recht bindet nach Thomas alle Menschen, es ist allen gleich. Dagegen sind „positive“ – schriftlich kodifizierte – Rechtssätze nur bedingt gültig. Sie dürfen dem natürlichen Recht nicht widersprechen. Genau genommen können sie Geltung nur intern für die kulturellen und religiösen Gemeinschaften beanspruchen. Bezogen auf die Natur, unterscheidet Thomas zwei Begriffe. Der eine Natur-Begriff deutet auf die außermenschliche Natur. Aus ihr lassen sich keine konkreten Rechtsregeln ableiten, denn in der außermenschlichen Natur gibt es kein Recht in diesem Sinne. Was man aus ihr ableiten kann, sind natürliche Tendenzen wie in der Aussage, auch in der außermenschlichen Natur ergebe sich dann eine familienähnliche Struktur, wenn die Aufzucht des Nachwuchses dies erfordere. Diese Strukturen sind je nach Art unterschiedlich und werden nicht durch Rechtssätze, sondern durch die Natur selber in Form von angeborenen Instinkten bestimmt. Das spezifisch menschliche Wesen, also die Natur des Menschen im Unterschied zur außermenschlichen Natur, mit der ihn sein körperliches Sein verbindet, ist die Vernunft. Nur im Rahmen der Vernunft lassen sich Rechtssätze entwickeln. Die Vernunft ist dann natürlich, wenn sie allein in den angeborenen Denkprinzipien der Logik gründet und nicht auf göttlicher Offenbarung, religiösen Setzungen oder tradierten (kulturellen) Werten basiert. Die göttliche Offenbarung trifft nur die von Gott ausgewählten Personen, die religiösen Setzungen nur die Gläubigen und die tradierten Werte nur die jeweiligen Angehörigen der Kultur; sie sind nicht allgemein und binden nur intern.
Ausdrücklich bemerkt Thomas – und an dieser Stelle wird klar, dass Johannes Paul II. Thomas dezidiert falsch zitierte –, dass „Bigamie“ (verstanden als jede Abweichung von der lebenslangen monogamen Einehe) nicht gegen das natürliche, sondern „bei uns“ (gemeint ist das christliche Abendland) nur gegen das „positive“ Recht verstoße. Denn Thomas war kosmopolitisch gebildet genug, um zu wissen, dass es sowohl historisch als auch zu seiner Zeit ganz andere Formen der Familienstruktur gab, die innerhalb ihrer Kulturkreise als nicht nur völlig legitim, sondern auch als moralisch hochstehend betrachtet wurden.
Obwohl also die spezifische Form der Familie kulturbedingt ist, steht fest, dass über die gesamte Existenz der Menschheit bis heute verwandtschaftliche Beziehungen von hervorragender sowohl ökonomischer als auch emotionaler Bedeutung sind. Mein Doktorvater, der linksradikale Ethnologe Christian Sigrist, sagte in einem Seminar zur Familiensoziologie Ende der 1970er Jahre, als ein Student unter großer Zustimmung die „bürgerliche Kleinfamilie“ verdammte: „Die Familie hat die Kritik verdient. Aber im Laufe ihrer Existenz hat die Menschheit keine bessere Alternative hervorgebracht.“ Die Kommilitonen schwiegen irritiert, nur ich spitzte die Ohren. Die Analen der Literatur sind voll von den Problemen der Familie, egal, in welcher Struktur, der Enge, der Ungerechtigkeit, der Brutalität. Man brauchte, um das zu erfahren, nicht auf die Psychoanalyse zu warten, die die Probleme nur systematisiert auf den Punkt brachte. Wer behauptet, die Psychoanalyse habe die Probleme herbeigeredet, um die Familie zu zerstören, hat Tomaten auf Augen und Ohren. Alle Gesellschaften boten und bieten auch Fluchträume für die von der Familie getriezten oder entnervten Mitglieder. Beispielsweise sind dies in segmentären Gesellschaften die solidarischen Altersgruppen, im europäischen Mittelalter ebenso wie im buddhistischen Asien die Klöster.
Die größte und umfassendste Befreiung aus der Enge der Familie hat in der Neuzeit der Kapitalismus mit sich gebracht, weshalb er von konservativer Seite immer heftig attackiert wurde und wird. Mit dem Wohlstand, den der Kapitalismus erzeugte, und mit den fast unendlichen Arbeitsfeldern, die er erschloss, machte er es möglich, dass die Individuen sich vom früh bis ins Alter selbst versorgen konnten, vielfältige Wege vorfanden, vom Überkommenen abzuweichen und sich gegen Schicksalsschläge mit Versicherungen zu wappnen – anstatt auf verwandtschaftliche Solidarität angewiesen zu sein, die oftmals mit einem hohen Maß an Konformitätsforderung verbunden ist.
Der Kapitalismus ist die eine Kraft, die zum Bedeutungsverlust der Familie führte, und dies tat er, ohne von der spontanen Ordnung abzuweichen, die sich aus dem freiwilligen Handeln der Menschen ergibt. Die andere Kraft, nicht so gutartig, ist der Wohlfahrtsstaat: Auch der Wohlfahrtsstaat macht von der Fürsorge, die Verwandte füreinander haben, unabhängig; dies tut er aber entgegen seinem Namen nicht durch Mehrung des Wohlstands und durch freiwillige Interaktionen, sondern durch Zwangsmaßnahmen gegen die Zahler und durch bürokratische Verwaltung der Empfänger.
Wohl niemand will zurück zur Enge der Familie, der gegenüber es früher keine Alternative gab, außer keuscher Einsiedelei oder Klosterleben, das sicherlich von ganz ähnlicher Enge gekennzeichnet war. Vermutlich selbst die laut schreienden Konservativen streben in ihren privaten Beziehungen keine Rückkehr zu dieser Situation an. Eine solche Rückkehr wird auch kaum möglich sein. Zwar ist zu erwarten, dass ein Abbau des Wohlfahrtsstaats eine gewisse Zunahme der Bedeutung der Familie mit sich bringen würde – solche Tendenzen lassen sich in Krisenzeit und -gebieten empirisch nachverfolgen –, aber eine Rückkehr in die alten Bahnen wird es nicht geben, stattdessen wohl eher eine Zunahme von entsprechenden privaten Versicherungen oder Hilfsorganisationen. Die früheren Verhältnisse ließen sich nur durch eine unerbittliche Repression wiederherstellen, wie es zum Beispiel nach der Islamischen Revolution in Iran zu beobachten war. Aber selbst dort und selbst unter dem härtesten Regime der Welt ließ die Rückkehr sich nicht dauerhaft erzwingen. Die Sitten weichen wieder auf, die Menschen rebellieren.
Ja, Familienstrukturen reagieren sensibel auf die sozioökonomischen Rahmenbedingungen, und dennoch sind sie für politische Entscheidungen unverfügbar.
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