Sexualität und Freiheit – Teil 9: Wider die Natur?
Teil 2: Inzest
Inzest ist unnatürlich, gehört darum verboten und streng bestraft, denn er wirkt sozial schädlich. Jeder weiß das. Man weiß es von den ägyptischen Pharaonen, von den degenerierten europäischen Adeligen, von den verblödeten süddeutschen Dörfern. Bei kaum einem anderen Thema herrscht die Vulgärbiologie so vor wie beim Thema Inzest.
Biologisch gesehen hat Inzest (oder Inzucht) sowohl Nach- als auch Vorteile. Die Nachteile sind eine verringerte genetische Vielfalt und die erhöhte Gefahr der Weitergabe von Erbkrankheiten. Hierbei ist zu beachten, dass entgegen der vulgärbiologischen Unterstellung der Inzest die Erbkrankheit nicht erzeugt. Vielmehr wächst die statistische Wahrscheinlichkeit, dass bei rezessiv vererbten schädlichen Merkmalen diese in den Nachkommen wirksam werden. Das ist freilich biologisch gesehen kaum ein Problem (sondern ein Vorteil), denn auf diese Weise werden die schädlichen Merkmale eher aus dem Genpool ausgeschieden. Es ist unter Menschen ein Nachteil, wenn man von der einzelnen Familie und besonders von den individuellen Nachkommen ausgeht. Der biologische Hauptvorteil von Inzest besteht in der besser gesicherten Weitergabe positiver Merkmale.
Es gibt Tierarten, in denen eine Inzestvermeidung praktiziert wird, andere, die gezielt die Paarung unter nahen Verwandten begünstigen; die meisten Tierarten sind gegenüber der Frage, ob es sich bei den Zeugungspartnern um Verwandte handelt, völlig indifferent. Unter Menschen können wir hier die Griechen anführen, die für Inzest überhaupt keinen Begriff hatten. Am berühmtesten Fall von Inzest in der abendländischen Geschichte, dem durch Freud so hervorgehobenen Ödipus, fanden die Griechen skandalös, dass er den Vater erschlug (wenn auch ohne sein Wissen), nicht dass er die Mutter ehelichte. Freud nannte das Inzestverbot die tiefste Wunde, die der Menschheit geschlagen worden sei – damit unterstellte er freilich, dass das Verlangen nach Sexualität unter Verwandten natürlich sei, das erst durch kulturelle Normen unterdrückt wurde.
Bei den nächsten Verwandten der Menschen, den Bonobos, die in Familienclans ohne feste Bindung von Zweierpaaren leben, geschieht die Inzestvermeidung, indem das geschlechtsreife Weibchen in der Regel den Clan verlässt und sich einem anderen Clan anschließt. Allerdings gibt es Ausnahmen. Interessanterweise haben Bonobo-Frauen, die im Herkunftsclan verbleiben, weniger Geschlechtsverkehr als andere Mitglieder des Clans und insofern eine statistisch gesehen geringere Fortpflanzungschance. Hervorzuheben ist allerdings, dass es sich hierbei um eine Tendenz handelt, nicht um ein ausschließliches Gesetz. Aus der biologischen Inzestvermeidung ein gesetzliches Verbot als legitim oder gar notwendig abzuleiten, ist ein krasser Kategorienfehler. Das Verbot greift ja nur, sofern die natürliche Vermeidung versagt. Unabhängig davon habe ich in dieser Serie immer wieder bewiesen, dass Natürlichkeit kein Maßstab und kein Kriterium für ein Recht sein kann. Falls ein Verbrechen auf einer natürlichen Anlage beruht, wird es dadurch nicht zum Recht.
Im gesetzlichen Inzestverbot geht es nicht und ging es nie um Biologie. Dies ist ganz einfach zu beweisen. Das Inzestverbot gilt auch dann, wenn die betroffenen Personen nur rechtlich, nicht aber biologisch verwandt sind, es greift bei Stiefeltern ebenso wie unter Adoptivkindern. Ich erinnere mich, dass ich als Jugendlicher meinen Großonkel, der Rechtsanwalt war, darauf ansprach und er achselzuckend die rechtspositivistische Antwort gab: „So lautet halt das Gesetz.“ Einen geschichtsträchtigen Fall finden wir im Ersten Brief an die Korinther des Apostels Paulus. Er empört sich über einen ihm zu Ohren gekommenen Fall, dass ein der korinthischen Gemeinde zugehörender Mann mit der Frau seines Vaters lebe und ordnet an, dieser möge „dem Teufel übergeben“ werden. Dies ist eine verklausulierte Aufforderung zur Todesstrafe. Sie musste er verklausulieren, weil die Verhängung und Ausübung der Todesstrafe den römischen Besatzern vorbehalten waren. Diese verstörende Passage wird bisweilen heute noch in Bibelausgaben mit der Überschrift „ein Fall von Blutschande“ betitelt, wohl in der Hoffnung, dass die Leserschaft Blutschande für ein abscheuliches Verbrechen hält und die Wut des Apostels, der ansonsten die Liebe predigte, nachvollziehen kann.
In den Augen der Griechen – und die christliche Gemeinde von Korinth bestand aus sogenannten Heidenchristen (so wurden Christen bezeichnet, die keine Juden waren) – handelte es sich sicherlich nicht um ein Verbrechen und nicht um einen moralisch verwerflichen Vorgang, während das „Leben mit der Frau des Vaters“ laut der Thora (Buch Levitikus) ein todeswürdiges Tun war. Nun werden wir dem Apostel Paulus, dessen Muttersprache Griechisch war, nicht unterstellen, dass er das griechische Wort für „Mutter“ nicht kannte. Die „Frau des Vaters“, mit der der verurteilte Sohn da zusammenlebte, war eben genau nicht seine biologische Mutter; vermutlich war die gestorben, der Vater hatte neu geheiratet, und zwar, wiederum vermutlich, eine deutlich jüngere Frau, vielleicht nicht älter oder jedenfalls nicht viel älter als ihr Stiefsohn. Vermutungen hin, Vermutungen her, fest steht, dass die besagte Frau nicht die Mutter war und insofern der Begriff „Blutschande“ völlig abwegig ist. Unabhängig davon, welches Familiendrama hinter dieser Geschichte steht – der Apostel schweigt sich darüber aus, es scheint ihn nicht zu interessieren –, müssen wir feststellen, dass hier weder die Biologie noch die kulturelle Herkunft des Mannes dem Urteil von Paulus im Entferntesten eine Legitimität verleihen.
Andererseits hat die Bibel kein Problem damit, dass Abraham mit seiner Halbschwester Sara verehelicht ist.
Das Verbot von Geschlechtsverkehr unter Verwandten, das das Gesetz ausspricht, kann aus einem weiteren Grund keine biologische Fundierung für sich beanspruchen. Denn die Reduzierung der Sexualität auf die Fortpflanzung ist unter Menschen „unnatürlich“: Sie ist in seiner Natur verankert (zum Beispiel, indem die Auslösung des Geschlechtstriebs bei Menschen von den fruchtbaren Zeiten der Frau abgekoppelt ist). Auch vor der chemischen Verhütung durch die Pille war den Menschen von alters her bekannt, wie sie Sexualität und Fortpflanzung voneinander trennen können. Biologisch gesehen wäre allenfalls das Verbot der inzestuösen Fortpflanzung, nicht aber das Verbot von aller inzestuösen Sexualität zu rechtfertigen.
Von der Frage des Inzests völlig zu unterscheiden ist die des Missbrauchs. Denn egal, ob der Vater der Tochter oder ein Mann einem fremden Mädchen Gewalt antut, handelt es sich um das nämliche Verbrechen. Das Verbrechen besteht nicht im Geschlechtsverkehr unter Verwandten, sondern in der Tatsache, dass er gegen den Willen einer der Beteiligten vonstattengeht. Insofern sind wir hier wieder bei dem moralischen Prinzip, das Thomas von Aquin formulierte: Sexualität ist (wie jede andere Handlung) keine Sünde, sofern sie niemandem Schaden zufügt. Oder, in der libertär präzisierten Formulierung: sofern sie freiwillig ist.
Bleibt die Frage, woher das Inzesttabu stammt. Was Sigmund Freud in „Totem und Tabu“ (1913) entgangen ist, ist die Struktur der non-zentristischen, herrschaftsfreien Gesellschaft (ethnologisch: akephal-segmentäre Gesellschaft). Das Beziehungsgeflecht der Verwandtschaft durchzieht die ganze Gesellschaft. Mittels der verwandtschaftlichen Beistandspflicht wird die non-zentrale Balance der Macht aufrechterhalten. Durch inzestuöse Partner- und Familienstrukturen würde die Institution dieser Balance gestört und sich ein Machtzentrum herausbilden können. An dieser Stelle geht es nächste Woche weiter.
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