Religion und Gesellschaft 5: Gott mit Potenzproblem
Das Böse und die Frage der Theodizee
Die polytheistischen Götter waren von Leidenschaften und (Macht-) Interessen getrieben; sie verfügten über ein zwar größeres Wissen als die Menschen, aber es war dennoch begrenzt, sowie über eine größere Macht, die gleichwohl keiner Omnipotenz entsprach. In manchen Mythologien gab es einen Schöpfer der Welt, der war allerdings weder allwissend noch allmächtig, und sein Schicksal bestand oft darin, dass er später entmachtet wird. Aristoteles postulierte einen ersten unbewegten Beweger, aber auch der war weder allwissend noch allmächtig – und hatte auch die Welt (Materie) nicht erschaffen, sondern nur in Bewegung gesetzt. Der Polytheismus kennt insofern kein Problem mit dem Bösen, als dass dem Bösen eine eigene Ursache eignet und es vom Guten bekämpft wird. Einen Grund dafür zu suchen, wäre eitel; das Böse-Sein ist eine unwandelbare Eigenschaft des bösen Gottes oder Geistes.
Allerdings hat der Polytheismus ein philosophisches Problem mit der Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Gut und Böse können nur aus der Perspektive der jeweils Betroffenen definiert werden, es sind Worte, die partikulare Interessen ausdrücken. Die Götter, die zu den Spartanern halten, sind aus der Perspektive der Spartaner gut, aus der Perspektive der Athener böse und umgekehrt. Oder universeller ausgedrückt: Auch der Böse versucht, seine Sache gut zu machen. Aus diesem Paradox folgt, dass es kein (übergeordnetes) Böses gibt, es gibt nur widerstreitende Interessen, wobei jedes Interesse sich selbst als gut und das gegnerische Interesse als böse definiert.
Mit dem Monotheismus wurde alles anders. Nun gab es eine Instanz, die über allem stand und den für alle gültigen Maßstab des Guten konstituierte. Die Vorstellung des einen wahren Gottes entstand aus dem philosophischen Kalkül, alle Ursachen auf eine erste Ursache zurückführen zu sollen. Die Allwissenheit und die Allmächtigkeit schienen aus dieser Prämisse zu folgen: Der Schöpfer, der alles Sein samt seiner Entwicklungsprinzipien geschaffen hat, ohne dass es weitere ursächliche Einflüsse gibt, scheint damit sowohl alles vorherwissen zu können (denn für einen Zufall ist in diesem Weltbild kein Platz, er wäre ein zusätzlicher ursächlicher Einfluss) als auch alles genau so gewollt zu haben, wie es ist, denn sonst hätte er etwas anderes geschaffen. Dagegen folgt die Allgüte nicht so unmittelbar aus der Vorstellung des einen Schöpfers. Man könnte sich einen Schöpfer von allem Sein denken, der diesem Sein gegenüber missgünstig ist. Die Allgüte folgt vielmehr aus der Funktion der Religion, negative Entwicklungen als Strafe Gottes für Ungehorsam sehen zu wollen. Die Strafe verlangt, dass sie gerecht ist und auf das Gute zielt, ansonsten würde sie sich nicht eignen, die Illusion der Verfügbarkeit aufrechtzuerhalten.
Der Monotheismus steht nun vor zwei philosophischen Problemen: Erstens impliziert die Allwissenheit, dass die Zukunft bis in alle Ewigkeit vollständig determiniert ist. Damit aber hat kein Wesen die Möglichkeit eines freien Willens, eingeschlossen Gott selber. Gott kann seinen Willen nicht ändern, denn dann hätte er zum Zeitpunkt, bevor er ihn ändert, nicht gewusst, wie es weitergeht. Das Gleiche gilt für jedes andere handelnde Wesen einschließlich des Menschen: Wenn es zu einem gewissen Zeitpunkt eine nicht vorhergesehene Entscheidung trifft, beeinflusst es damit den Gang der Ereignisse, den Gott also nicht vorhersehen konnte. Mit der vollständigen Determination der Zukunft, die den Verlust des freien Willens impliziert, verfällt allerdings jede Möglichkeit einer moralischen oder verantwortlichen Handlung: Moralisch verantwortlich zu handeln, setzt voraus, dass ich mich anders entscheiden könnte. Zudem geht auch die Illusion der Verfügbarkeit flöten: Gott kann mich nicht vor meinem vorherbestimmten Schicksal schützen, denn dazu müsste er seinen Willen ändern und auf diese Weise die Zukunft umgestalten. Kein Beten hilft. Kein Gehorsam. Kein Morden im Namen des zornigen Gottes. Derart allerdings wird der allmächtige Gott absolut ohnmächtig. Und mit seiner Güte ist es auch nicht mehr weit her.
Astrologie, Kartenlegen und Orakelsprüche haben übrigens das gleiche Problem wie der allwissende Gott: Damit eine exakte Voraussage über den Verlauf zukünftiger Ereignisse gemacht werden kann, muss die Zukunft absolut determiniert sein, der Verlauf also feststehen. Aber dann kann die Voraussage keinen Einfluss auf die Handlung nehmen; es gibt nämlich in dem Fall gar keine Handlung im Sinne vom Treffen einer Entscheidung. Sofern die Voraussage einen Einfluss auf den Verlauf der Ereignisse hat, trifft sie nicht mehr zu.
Das Paradox des Monotheismus bezüglich Allwissenheit und Allmacht ist seit der Antike bekannt. Es wurde schon von nicht-monotheistischen antiken Philosophen logisch eindeutig formuliert. In neuerer Zeit haben christliche Theologen es aufgenommen und darauf verwiesen, weder im Alten noch im Neuen Testament sei von einem allwissenden, allmächtigen und allgütigen Gott die Rede. Damit haben sie wohl recht. Der Gott der Thora wird wie die griechischen Götter zornig. Er ist ungerecht. Er hat keinerlei Vorkenntnisse über das Handeln der Menschen, sogar nicht einmal bei denjenigen, die er für gewisse Ämter vorsieht. Sie enttäuschen ihn regelmäßig. Nur die wenigsten handeln, wie er es von ihnen erwartet. Dieser Gott ist nicht gütig und auch nicht gerecht. Die einen bestraft er für etwas, was sie nicht getan haben, die anderen belohnt er, ohne dass sie es verdienen. Überdies zeitigen seine Strafen nicht die beabsichtigte Wirkung. Als Pädagoge ist Gott absolut unfähig. Sein auserwähltes Volk tut nicht, was er will. Damit unterscheidet ihn von den polytheistischen Göttern nur eins: nämlich dass er keinen Gott hat neben sich. Er ist einsam und irgendwie verantwortlich für das, was er angerichtet hat, ohne eine Handhabe, es in die richtigen Bahnen zu lenken. In der Sintflut wollte er dem Ganzen ein Ende bereiten, aber weil er doch eine Handvoll Lebewesen retten ließ, fing alles wieder von vorn an, ohne dass sich etwas zum Positiven verändert hatte. Die radikale Brutalität seines Vorgehens stellte sich als sinnlos heraus.
Im Neuen Testament wird das Paradox des Monotheismus pointiert ausgedrückt. Der Teufel bietet Jesus als Versuchung die Herrschaft über die Welt an, Jesus aber verzichtet. Die Weltherrschaft anzutreten, ist also die Versuchung des absolut Bösen: sie würde den freien Willen und damit die Moral auslöschen. Am Kreuz bittet Gott sich selbst, diesen Kelch an ihm vorbeigehen zu lassen; aber er vermag es nicht. Er ist nicht allwissend, denn als Allwissender wüsste er seine Entscheidung bereits, noch allmächtig, denn als Allmächtiger könnte er seine Entscheidung ändern, noch allgütig, denn als Allgütiger müsste er einen Unschuldigen retten. Er bittet sich selbst, seinen Peinigern zu vergeben: Das ist das ultimative Zugeständnis, weder über Allmacht noch Allwissenheit noch Allgüte zu verfügen. Am Ende ist Gott tot, lange bevor Friedrich Nietzsche (1844–1900) dies verkündete.
Aus dem omnipotenten ist der impotente Gott geworden. Er muss sich nicht mehr für das Vorhandensein des Bösen rechtfertigen, denn er kann es nicht ändern. Durch den Akt, Wesen mit eigenem freien Willen geschaffen zu haben, Wesen, die sich unabhängig von ihm entscheiden können, hat er sein Allwissen und seine Allmacht aufgegeben. Zur Allgüte fehlen ihm das notwendige Wissen und die notwendige Macht. Die Frage lautet nicht mehr, wozu der allwissende, allmächtige und allgütige Gott das Böse zulässt; denn er kann es nicht verhindern. Die Frage lautet vielmehr, inwiefern dieser Gott einem Halt gibt. Sich an ihn zu wenden, ist sinnlos, weil er keinen Einfluss auf den Gang der Ereignisse ausübt.
Vielleicht findet man Trost bei ihm: den Trost, den man bei einem Freund findet, der zwar genauso hilflos ist wie man selber, aber mitfühlt und gegebenenfalls mittrauert. Ein solcher Gott eignet sich nicht dazu, der Herrschaft dienlich zu sein. Er eignet sich nicht einmal dazu, die gesellschaftliche Moral zu fördern, geschweige denn, sie aufrechtzuerhalten.
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