14. Februar 2025 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 37 Der Diskurs der Philosophie

Schlussbetrachtung

von Stefan Blankertz

von Stefan Blankertz drucken

Artikelbild
Bildquelle: Zigres / Shutterstock „Beruf“ des Philosophen – gestern wie heute: Die Infragestellung von Herrschaft

Dass Laotse (Teil 2), Buddha (Teil 7), Konfuzius (Teil 5) und Sokrates (Teil 1) im Anfang einer Geschichte der Philosophie zu stehen haben, ist vermutlich unumgänglich und unumstritten. An Platon (Teil 3) und Aristoteles (Teil 8) kommt wohl auch niemand vorbei. Doch je weiter wir uns der Gegenwart nähern, wird die Auswahl immer schwieriger, subjektiver und vielleicht gar beliebiger. Wie gut haben es die, die an eine eindeutige und kurze Kette glauben können, etwa Heidegger (Teil 29), der meinte, mit Platon habe das Verhängnis abendländischer Philosophie begonnen und zwischen den Vorsokratikern (Teil 4) und ihm sei nichts von Belang geschehen. Oder wie Ayn Rand (Teil 35), die meinte, die Geschichte der Philosophie sei erschöpft in dem Dreiklang Aristoteles, Thomas von Aquin (Teil 14) und ihr selber.

Eine vollständige Geschichte der Philosophie kann es nicht (mehr) geben. Auch eine neutrale nicht. Die Philosophie selbst ist niemals neutral. Sie hebt an mit dem Widerstand gegen die Zumutung der Herrschaft: im Morgenland mit dem daoistischen Widerstand gegen den regierenden Fürsten, im Abendland mit Sokrates’ Widerstand gegen den demokratischen Konformismus. Vermutlich hat sogar die entlegenste erkenntnistheoretische Theoriebildung eine politische Dimension. Das Denken fordert die politische Herrschaft heraus, denn es bezieht sich immer darauf, dass jeder Mensch über eine eigene Vernunft verfügt, an die man appellieren kann, während die Herrschaft die Unterwerfung und den Gehorsam ohne eigenes Denken fordert.

Aber die Philosophen haben es auch verstanden, den subversiven Charakter des Denkens zu vernebeln, und meinten, es in den Dienst der Herrschaft stellen zu können. Es ist ihnen jedoch niemals gelungen. Die Herrschenden wissen das nur zu genau und sind den Philosophen gegenüber stets misstrauisch gewesen. Die libertäre Sicht auf die Geschichte der Philosophie rettet das Denken vor dem Kotau vor der Herrschaft.

Einer, wenn nicht gar der entscheidende Ertrag der libertären Sicht auf die Philosophie ist, dass die beliebte Verführungsthese falsch ist: Die Stütze der Herrschaft bildet nicht die Verführung durch das Denken und sei es noch so flach wie die Propaganda, sondern das ökonomische Interesse, am Manna der Staatsgewalt teilhaben zu können – entweder (und meistens!) das nackte Interesse, sich der Arbeitsleistung anderer bemächtigen oder (seltener) seine eigene Ideen von Gut und Böse anderen per Gewalt aufzwingen zu können (Étienne de la Boétie, Teil 17; Proudhon, Teil 24; Stirner, Teil 25; Marx, Teil 26; Nietzsche, Teil 27; Ludwig von Mises, Teil 36). Dabei handelt es sich meist darum, dass die Teilhabe am Manna der Staatsgewalt eine bloße Illusion darstellt, weil die Bilanz der Kosten, die die Herrschaft verursacht, im Verhältnis zum Gewinn, den sie einem Teil der Bevölkerung einbringt, für die meisten negativ aussieht – nur eine Minderheit profiziert wirklich. Das kann ja auch nicht anders sein, denn eine gleichmäßig an alle verteilte Beute reduziert sich auf null. Die Profiteure der Staatsgewalt bedienen sich der Worte – genannt Propaganda –, um den Anschein zu erwecken, im Recht zu sein, aber an den Worten liegt den regierenden Gewalttätern nichts, und noch weniger an denen, sie sie äußern: Man entledigt sich ihrer, sobald sie ausgedient haben.

Armer Rhetor. Armer Philosoph. Wenn du das nicht wahrhaben willst und glaubst, dem Herrscher dienen zu können und dir damit sein ewiges Wohlwollen verdient zu haben, irrst du dich. Irrst du dich gewaltig, um nicht zu sagen: gewalttätig. Kehre um und schließe dich dem Widerstand an. Insofern gibt es eine Verantwortung der Philosophen für ihre Wirkung. Sie definieren die Herrschaft nicht, aber sie könnten sich ihr in den Weg stellen und damit zu Helden werden.

Während ich an dieser Serie zur Geschichte der Philosophie mit der libertären Fragestellung des Verhältnisses von Denken und Herrschaft schrieb, erschien ein bisher unveröffentlichtes Manuskript von Michel Foucault (Teil 33) von Mitte der 1960er Jahre mit dem Titel „Der Diskurs der Philosophie“. „Diskurs“ bedeutete für Foucault der den Handelnden weitgehend unbekannte – und unverfügbare! – Machtzusammenhang, der definiert, was in einem gesellschaftlichen Funktionsbereich sag- und machbar ist und was nicht. In seiner Diskursanalyse der Philosophie ging es Foucault darum, den neuzeitlichen Diskurs der Philosophie seit Descartes (Teil 16) zu bestimmen und vom wissenschaftlichen, literarischen und alltagssprachlichen Diskurs abzugrenzen.

Im Anschluss an oder im Widerspruch zu Marx’ berühmter elfter Feuerbachthese – „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“ – meint Foucault, dem neuzeitlichen philosophischen Diskurs falle die Funktion der Diagnose, nicht die der Veränderung zu. Das lässt mich in mehrfacher Weise ratlos zurück. Ist das erstens ein Wandel gegenüber der vorneuzeitlichen Philosophie? Oder ist es nicht gerade umgekehrt, dass die vorneuzeitliche Philosophie sich oft (aber nicht durchgängig) als eher kontemplativ verstand, während die neuzeitlichen Philosophen oft (wenn auch nicht durchgängig) etwas bewirken wollten? Steht die Diagnose nicht zweitens immer im Dienst einer Therapie, die gesellschaftlich stets Veränderung einschließt? Und ist es nicht drittens gerade Foucaults eigene These in Anschluss an Nietzsche, dass die Tätigkeit des Namengebens, des Ordnens, der Wissensproduktion, der Diagnose die gesellschaftlichen Verhältnisse entscheidend prägt?

Über diese drei kritischen Rückfragen hinaus zeigt Foucaults Text zum Diskurs der Philosophie besonders deutlich ein generelles Manko seiner Philosophie, wie ich es sehe: Es gibt an keiner Stelle seines Textes ein Subjekt des Diskurses. Weder die Philosophie noch der Diskurs haben ein Subjekt, sie stehen selber da, als seien sie die handelnden Subjekte. Wer legt den Diskurs der Philosophie auf Diagnose fest? Oder, unpersönlich gefragt: Wie wird er auf Diagnose festgelegt? Welche Mechanismen stellen sicher, dass Philosophen den Rahmen nicht sprengen? Und in der Tat haben (viele) Philosophen den Rahmen gesprengt und wollten wirksam werden, nicht zuletzt ist Foucault selber ein Beispiel dafür wie etwa durch sein Wirksamwerden in der Antipsychiatriebewegung. Da ging seine Aufgabe von der Diagnose zur Veränderung über.

An dem Beispiel von Foucaults Bemerkungen zum neuzeitlichen literarischen Diskurs wurde mir die Schwäche seiner Diskursanalyse besonders augenfällig. Als paradigmatisch für den neuzeitlichen literarischen Diskurs und als Folie zur Abgrenzung gegenüber der Philosophie (wie der Wissenschaft und der Alltagssprache) dient Foucault immer wieder „Don Quijote“, der Roman aus dem Jahr 1605. Wie großartig dieser Roman auch sein mag, wie viele Motive späterer Romane in ihm schon angeklungen sein mögen, an keiner Stelle geht Foucault auf die Frage ein, inwiefern er pars pro toto für die gesamte neuzeitliche Literatur bis heute stehen kann. Und wie funktioniert das, dass die Romanproduzenten sich immer innerhalb des durch „Don Quijote“ abgesteckten Rahmens bewegen? Ich kenne ganz ähnliche Analysen, die behaupten, in der „Ilias“ und „Odyssee“ seien bereits alle denkbaren Motive menschlicher Literatur enthalten. Auch das ist eine kühne These. Aber vor allem: Diese beiden Thesen müsste man gegeneinander abwägen. Das Gleiche gilt für die Philosophie: Foucault setzt voraus, dass mit Descartes ein Einschnitt in das philosophische Denken markiert sei. Doch kann man auch argumentieren, dass wir uns immer noch im Rahmen der Philosophie bewegen, den Sokrates, Platon und Aristoteles abgesteckt haben. Der Diskurs der Philosophie überspannt nicht nur Jahrhunderte, sondern Jahrtausende und findet im Abendland kaum anders als im Morgenland statt. Die Ähnlichkeiten sind größer als die Differenzen.

Mir scheint, dass die hier kurz umrissene Problematik des Textes zumindest einer der Gründe dafür ist, dass Foucault ihn, obwohl er in sich abgeschlossen und nahezu druckreif war, unveröffentlicht ließ.

Mein eigenes Vorgehen in diesem Streifzug durch die Geschichte der Philosophie war vor allem, das Denken und seine gesellschaftliche Leistung genauso ernst zu nehmen wie die gesellschaftliche Realität, auf das es sich bezieht. Meinetwegen ist es die Aufgabe des Philosophen, eine Diagnose zu stellen, aber die Diagnose sollte im Dienst einer besseren Gesellschaft stehen. Dazu gibt es verschiedene und unterschiedlich gut geeignete Ansätze; aus welchem Jahrhundert und aus welchem Erdteil sie stammen, ist dabei unerheblich. Es geht immer darum, Herrschaft infrage zu stellen. Das ist der Beruf des Philosophen.


Sie schätzen diesen Artikel? Die Freiheitsfunken sollen auch in Zukunft frei zugänglich erscheinen und immer heller und breiter sprühen. Die Sichtbarkeit ohne Bezahlschranken ist uns wichtig. Deshalb sind wir auf Ihre Hilfe angewiesen. Freiheit gibt es nicht geschenkt. Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit.

PayPal Überweisung Bitcoin und Monero


Kennen Sie schon unseren Newsletter? Hier geht es zur Anmeldung.

Artikel bewerten

Artikel teilen

Kommentare

Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.

Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.