Libertäre Philosophie – Teil 34: Anything goes!
Paul K. Feyerabend: Die Erkenntnistheorie hebt sich auf
von Stefan Blankertz
Neben dem Strang der Philosophie, der mit Kant (Teil 22) über Hegel (Teil 23) zu Foucault (Teil 34) führt und sich vor allem mit gesellschaftlichen Fragen befasst, gibt es eine Anknüpfung an die naturwissenschaftliche Seite der Philosophie, die dann als Forderung eine der Naturwissenschaft analoge Erkenntnisgewinnung postuliert. Dieser Strang der Philosophie firmierte lange unter dem selbstgewählten Begriff des „Positivismus“, bis dieser zum Schimpfwort herabsank, und wählte dann andere Begriffe wie zum Beispiel „kritischer Rationalismus“. Der Positivismus setzte dem Skeptizismus von Hume (Teil 19) die Behauptung entgegen, dass es mit den geeigneten erkenntnistheoretischen Instrumentarien einfach sei, natur- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zu generieren.
Aber was sind die geeigneten Instrumentarien? Wie auch die nachkantische Philosophie landeten die Überlegungen (etwa Husserls, Teil 28) schnell bei der Sprache. Um zu klaren Erkenntnissen zu gelangen, ist es nötig, eine klare, von den Unbestimmtheiten der Alltagsausdruckweise befreite Sprache zu haben. Das Ideal war die Mathematik: Alle benutzten Ausdrücke müssen definiert sein. Doch die beherzten positivistischen Sprachreformer stießen schnell auf das Paradox, dass es niemals möglich ist, etwas zu definieren, ohne dabei auf nicht definierte Ausdrücke zurückzugreifen; selbst für die Mathematik ist es umstritten, ob es möglich ist, die erkenntnistheoretische Forderung des Positivismus zu erfüllen, ausschließlich definierte Ausdrücke zu verwenden. Diejenigen positivistischen Erkenntnistheoretiker, die entweder selber aktive Naturwissenschaftler waren oder diesen genau auf die Finger schauten, stießen parallel zum Scheitern des sprachwissenschaftlichen Positivismus auf die Tatsache, dass keine Erkenntnis ohne das erkennende Subjekt und sein Interesse an der Erkenntnis zustande komme.
Der Österreicher Paul K. Feyerabend (1924–1994) steht am Ende dieser Entwicklung des Positivismus. Seine Position nannte er zunächst erkenntnistheoretischen Anarchismus und später, als ihm selbst dieser Begriff zu eng wurde, erkenntnistheoretischen Dadaismus. Als Clown der Szene stieg er in den 1970er Jahren zum Superstar auf, um dann leider schnell wieder in der Versenkung zu verschwinden, obwohl wir seine Kritik heute, in der Zeit überhandnehmender Wissenschaftsgläubigkeit, gepaart mit einer Staatsgewalt, die diesen Glauben an die rechte Wahrheit mit sich steigernder Härte zu implementieren versucht, nötiger denn je hätten. In seiner Zeit als Superstar hatte Feyerabend vier Professuren in drei verschiedenen Ländern (USA, Schweiz, Bundesrepublik Deutschland) inne.
Bei der Untersuchung von wissenschaftlichen Erkenntnissen stieß Feyerabend auf drei ebenso interessante wie enttäuschende Phänomene:
Erstens: Kein Wissenschaftler folgt bei seiner Forschung einer Erkenntnistheorie, selbst dann nicht, wenn er selber sie zuvor formuliert hat. Vielmehr nutzt er all die Instrumente, die ihm im Fortgang seiner Tätigkeit plausibel erscheinen.
Zweitens: Auch die nachträgliche Rekonstruktion von Erkenntnistheoretikern, wie ein Wissenschaftler zu seinen Ergebnissen gekommen sei, ist immer falsch. Da der Wissenschaftler seine erkenntnisbringenden Instrumentarien je nach Plausibilität oder Lust und Laune einsetzt, lässt sich daraus nur dann eine stringente Methode entwickeln, wenn man alles das, was zu der (angeblichen) Methode nicht passt, schlichtweg ausblendet.
Drittens: Das, was in der sogenannten Wissenschafts-Community dann als wahr akzeptiert wird, hat wenig bis nichts mit der Plausibilität der Forschungsergebnisse zu tun, sondern ist eine reine Machtfrage. Der Wissenschaftsbetrieb ist ein Machtapparat und muss als solcher analysiert werden.
Feyerabend gefiel sich in der Pose als Clown und Provokateur. Unter diesem Gestus ging und geht leider oft verloren, welch überzeugende Empirie hinter seinen Thesen steht. Nun war Feyerabend weder Wissenschaftshistoriker, in deren Bereich die ersten beiden Thesen fallen, noch Wissenschaftssoziologe, in deren Bereich die dritte These fällt. Von den Gegnern wurden und werden Feyerabend genüsslich marginale Fehler und erkenntnistheoretisch unzulässige Verallgemeinerungen vorgeworfen. Die rhetorische Figur, Kleinigkeiten gegen das Ganze einer Theorie zu wenden, kommt beim hämischen und des Denkens entwöhnten Publikum immer gut an; sie enthebt davon, sich mit der Sache selber auseinandersetzen zu müssen. Sinnvoll aber ist ein solches Vorgehen nicht.
Freilich hat Feyerabend tatsächlich etwas versäumt, weil in der Traditionslinie seiner Philosophie leider das Studium von Kant zu kurz gekommen ist: Es fehlt die Selbstreflexion, die Kant schon gegen Humes Skeptizismus richtete, nämlich dass die Anschauungsformen (Raum und Zeit), die Kategorien und die Logik, allem voran die Kausalität, als gegeben vorausgesetzt werden. Auch Feyerabend ist es nie gelungen, aus dieser erkenntnistheoretischen Basis auszubrechen, außer durch Taschenspielertricks. Es gibt eine solide erkenntnistheoretische Basis. Das macht Feyerabends Wissenschaftskritik nicht hinfällig, aber schränkt sie ein: Sie ist keine Widerlegung der Erkenntnistheorie und deren Nützlichkeit.
Aus seinen Thesen leitete Feyerabend eine bedenkliche Forderung ab, nämlich die, die Wissenschaft durch „Bürgerbeiräte“ direktdemokratisch kontrollieren zu lassen. Es ist schon eine grobe Einseitigkeit, den Machtapparat der Wissenschaft durch einen anderen Machtapparat, dem demokratischer Wahlen, ersetzen zu wollen. Demokratische Mehrheiten sind nicht dafür bekannt, rationaler oder auch nur toleranter zu sein als der Wissenschaftsbetrieb. Über diese Frage habe ich Anfang der 1980er Jahre selber einen kurzen brieflichen Austausch mit Feyerabend geführt. Feyerabend hielt daran fest, dass direkte Demokratie gegenüber dem Wissenschaftsbetrieb das kleinere Übel sei.
Es sei dahingestellt, ob das eine richtige Einschätzung war (ich bezweifle das); vor allem aber hat Feyerabend eines nicht bedacht, was inzwischen leider Realität geworden ist: Die demokratischen Instanzen können sich mit dem Machtapparat der Wissenschaft verbünden. Beide Machtapparate stützen und durchdringen sich. Das Bündnis läuft in beide Richtungen: Einerseits nutzt der Machtapparat des Wissenschaftsbetriebs die Instanzen der demokratischen Staatsgewalt, um seine Inhalte und Ziele gesellschaftlich verbindlich zu machen; andererseits wirken die Instanzen der demokratischen Staatsgewalt auf den Wissenschaftsbetrieb ein, damit dieser genau solche Aussagen hervorbringt, die ihnen genehm sind. Es findet also keine gegenseitige Kontrolle und Einschränkung der Macht statt, sondern die Apparate wirken wie Echoverstärker. und der erzeugte Lärm wird undurchdringlich und unerträglich.
Gegenüber dem Geflecht aus Wissenschaftsbetrieb und Staatsgewalt bekommt die Erkenntnistheorie einen geradezu subversiven Charakter. Die Erkenntnistheorie erinnert daran, dass Aussagen den Instanzen – egal, welcher Art – nicht zur beliebigen Verfügung stehen. Sie müssen gewissen Qualitäten entsprechen. Soziologisch erinnert die Erkenntnistheorie daran, dass Erkenntnisse nur aus der offenen Diskussion erwachsen. Zwang, Druck, ja die geringste Missbilligung abweichender Meinungen vertreiben die Erkenntnis auf Nimmerwiedersehen und reduzieren sie auf bloße Ideologie als Deckmantel der Macht. All dies war schon zu Feyerabends Lebenszeit absehbar, ist inzwischen aber nur noch realer geworden.
Was bleibt von Feyerabend? Was sollte von Feyerabend bleiben? Erstens die Vorsicht bei der Behauptung, irgendeine Aussage sei, weil von einem Wissenschaftler oder sogar von der Mehrheit der staatlich angestellten Wissenschaftler abgesegnet, anderen Aussagen prinzipiell überlegen. Und zweitens der Nachdruck, den Wissenschaftsbetrieb auf seine internen Machtstrukturen und seine Abhängigkeiten von externen Machtstrukturen zu untersuchen. Alle möglichen Fehler und Mängel von Feyerabend treten hinter diesen beiden Herkulesaufgaben zurück.
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.
Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.