Die Psychologie der Politik: Erwachsene populäre Unterhaltung. Praxistipps
„Revolver“ (Film)
von Andreas Tiedtke (Pausiert)
von Andreas Tiedtke (Pausiert) drucken
In meiner letzten Kolumne beschrieb ich, dass die populäre Unterhaltungsindustrie oftmals – nicht immer und nicht unbedingt absichtlich – unterschwellig ein infantiles Welt- und auch Männerbild kolportiert. Heute möchte ich Beispiele aus der populären Filmindustrie bringen, die zumindest einen erwachsenen Erzählstrang haben – neben einem infantilen –, sodass sich „Jung und Alt“ daran erfreuen können. Viele dieser Filme habe ich bereits interpretiert und Sie finden die Links hierzu in den Quellenangaben. Auf einen ganz besonderen werde ich näher eingehen.
Ganz offensichtlich thematisiert der Film „Matrix“ Herrschaft, vor allem Herrschaft über den Geist, wenn in dieser transhumanistischen, mechanistischen Allegorie von einem „prison for your mind“ die Rede ist, also einem „geistigen Gängelwagen“, wie Immanuel Kant (1724–1804) es genannt hat.
In der Marvel-Reihe möchte ich insbesondere die Filme „Civil War“, „Infinity War“ und „Guardians of the Galaxy 3“ hervorheben. In „Civil War“ wird thematisiert, ob es „gerechte Herrschaft“ überhaupt geben kann. In „Infinity War“ tritt der Superschurke Thanos auf, der – seiner Meinung nach – ein ethisches Ziel verfolgt, nämlich den Kampf gegen die Überbevölkerung, die er sich einbildet. Er hält seine Mutmaßung aber für „Fakt“. Er ist Überzeugungstäter und glaubt, die „Regulierung“ der Überbevölkerung und sein Ziel der „nachhaltigen Entwicklung“ des Universums rechtfertigten sein grausames Tun. In „Guardians of the Galaxy 3“ erkennt die psychologische Fachkraft im Team, Mantis, dass bis auf den grobschlächtigen Drax alle Mitglieder des Heldenteams Gefühle infantilen Selbsthasses hegen.
Die populäre „John Wick“-Reihe kann als Allegorie eines intellektuellen Kampfes gegen Obrigkeit und Unterdrückung und für Freiheit verstanden werden. Der Gegenspieler in „John Wick IV“, der Marquis de Gramont, sagt ausdrücklich, dass es ihm nicht darum gehe, die Person John Wick zu töten, sondern die Idee, die hinter John Wick steht, und diese Idee ist das Aussteigen aus dem Gewalt-Kartell der „Hohen Kammer“, die Rebellion gegen Fremdherrschaft und Gewalt.
Besonders eingehen möchte ich auf einen weniger populären Film, der es meiner Meinung nach verdient, eine herausragende Stellung bei den populären „Aufklärungs-Filmen“ zu erlangen, weil er am tiefsten in das Thema einsteigt: Der Film „Revolver“ des Regisseurs Guy Ritchie.
Revolver
Das allegorische Setting ist ein Gangsterdrama in der Glücksspiel- und Drogenszene. Der Protagonist Jake Green steht seinem – augenscheinlichen – Antagonisten Mister Macha gegenüber, einem Kasinobesitzer und Gangsterboss. Jake Green verbrachte davor einige Zeit im Gefängnis neben zwei kongenialen Zellenkollegen, mit denen er korrespondierte und von denen er über Betrügereien und Strategie lernte. Dabei ging es im Wesentlichen darum, herauszufinden, wer der Gegner sei und wie man dem Gegner stets einen Schritt voraus ist.
Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis beginnt Jake Green einen Rachefeldzug gegen Mister Macha, an dem er durch eine anscheinend unheilbare Krankheit, die ihn ereilt, gehindert wird. Aus der Patsche helfen Jake Green Avi und Zach, zwei Kredithaie, die auch „the last resort“ genannt werden, etwa die „Letzte Instanz“ oder der „Letzte Ausweg“.
Derweil möchte Mister Macha sein Geschäftsfeld vergrößern und nimmt hierzu Verbindung mit den Handlangern eines mysteriösen Mister Gold auf, mit dem er ganz groß ins Kokain-Geschäft einsteigen will. Dabei machen ihm Jake Green und „die Letzte Instanz“ (Avi und Zach) einen Strich durch die Rechnung und Macha bleibt Mister Gold die Lieferung schuldig. Mister Macha ist daraufhin überaus furchtsam vor der Rache des Ober-Gangsters Mister Gold, der keine Fehler verzeiht und auch kein Pardon kennt.
Die Ereignisse überschlagen sich, Verbrechen folgt auf Verbrechen, bis Jake Green einen Hinweis von seinem Bruder erhält, dass er sich von den Jungs von der „Letzten Instanz“ fernhalten solle. Selbst Mister Gold, dem sie auf die Füße gestiegen seien, traue sich nicht an diese ran.
Es folgen zwei Schlüsselszenen. Auf dem Dach eines Hochhauses spielen Zach und Avi Golf, während sie Jake Green auseinandersetzen, wer sein wirklicher Gegner ist. Dieser verstecke sich dort, wo man ihn am wenigsten erwarte. Er verstecke sich in der eigenen Psyche. Mister Gold repräsentiere dieses „Ego“, das „falsche Ich“. Er stecke hinter jedem Leid, hinter jedem Verbrechen, das jemals begangen wurde.
„Wir schicken Sie in den Krieg gegen den einzig wahren Feind“, so Avi zu Jake, „und Sie denken, er sei Ihr bester Freund. Sie beschützen ihn, Mister Green. Aber womit? … Er versteckt sich hinter Ihrem Schmerz, Jake. Sie beschützen ihn mit Ihrem Schmerz. Umarmen Sie den Schmerz, dann gewinnen Sie auch das Spiel.“
Zach fügt hinzu: „Wenn du die Regeln änderst, die dich kontrollieren“, und Avi ergänzt, „dann änderst du auch die Regeln deiner eigenen Kontrolle. Wie sicher sind Sie, dass Sie wirklich Mister Green sind?“ Der letzte Satz heißt im englischen Original übrigens: „How radical are you prepared to be, Mister Green?“
In der zweiten Schlüsselszene sitzen die Jungs von der „Letzten Instanz“ und Jake Green beim Schachspiel in Mister Machas mit Leuten gefülltem Kasino, und Avi fährt damit fort, Jake über die Natur des „falschen Ichs“, „Egos“ oder „Mister Gold“ aufzuklären. „Niemand weiß, wer der Feind ist“, so Avi. „Er infiziert den Intellekt eines jeden Einzelnen hier. Und sie [die Leute] vertrauen ihm. Denn sie halten sich für ihn. Wenn Sie [Jake] versuchen würden, ihn [Mister Gold] zu vernichten, um die alle zu retten, dann würden die Sie vernichten, um ihn zu retten.“ Ein Aspekt übrigens, der auch in „Matrix“ angesprochen wird: Solange die Mitmenschen in der Matrix gefangen sind, so Morpheus sinngemäß zu Neo, werden sie diese beschützen. Um mit den Worten Immanuel Kants zu sprechen, schützen die Menschen also den „geistigen Gängelwagen“, in den man sie gesperrt hat, solange sie darin eingesperrt sind.
Jake Green erfährt nun auch, dass es sich bei Avi und Zach um die beiden kongenialen Zellenkollegen handelte, mit denen er über Jahre korrespondierte, ohne sie je gesehen zu haben, und Avi klärt Jake Green zum Schluss auch darüber auf, wieso sie ihm geholfen haben: „Wir haben das nicht aus Gefälligkeit getan. Wir taten es, weil wir Sie sind.“
Spätestens beim letzten Satz steigen viele leider aus. Doch langsam. In meinen vorhergehenden Kolumnen legte ich ausführlich dar, dass unser Denken und Fühlen von unseren oft unbewussten Einstellungen und Überzeugungen herrührt. Diese wurden uns antrainiert oder wir haben sie uns zugelegt, um uns vor noch größerem Schmerz – vermeintlich – zu schützen. Bei vielen Menschen sind die Einstellungen zu Schuld, Scham oder Ungenügen infantil geblieben und sie führen zu feindseligen Haltungen zu sich und der Welt. Und diese infantilen feindseligen Einstellungen und Überzeugungen führen zu feindseligem Denken und Fühlen, und zwar gegen sich selbst gerichtet, dann können wir modern von depressiven Charakteren sprechen, oder gegen andere gerichtet, dann können wir modern von malignen Narzissten, Soziopathen oder Psychopathen sprechen. Und es gibt alle möglichen Mischformen aus diesen Charakteren, je nachdem, welche „Innenperson“, also welches „Haltungs-Set“ gerade getriggert wird.
Diese infantilen Einstellungen und Überzeugungen bringen ein feindseliges Denken und Fühlen hervor, und da „die Tat der Idee folgt“, schlussendlich feindliches Handeln. Aber was tun die meisten Menschen? Sie halten „die Stimme in ihrem Kopf“, also ihre Gedanken, die sie den ganzen Tag begleiten, für sich selbst.
Ein erster Schritt wäre, sein eigenes Denken aus einer gewissen Distanz heraus zu betrachten. Denn man muss nicht alles glauben, was man denkt. Wenn Sie Ihr Denken beobachten, dann können Sie Rückschlüsse darauf ziehen, welche Haltung dem Denken zu Grunde liegt. Wenn Sie beispielsweise denken, dass Ihnen Ihr Nachbar einen Anteil an seiner Erbschaft schuldet, Sie also Erbschaftsteuer befürworten, dann können wir mit der Handlungslogik eindeutig nachweisen, dass diese Haltung falsch ist, weil Schuld im Sinne einer Verpflichtung eine freiwillige Interaktion erfordert. Die Haltung, jemand könne uns etwas schulden, auch wenn er sich uns gegenüber zu nichts verpflichtet hat – und uns darüber hinaus auch nichts angetan hat –, ist eine infantile Haltung. Und diese Haltung ist tatsächlich ursächlich für viel Schmerz und Leid in der Welt. Denn am Ende laufen solche Haltungen auf Herrschaft über andere hinaus, auf das Androhen von Übeln, auf Zwang und Gewalt. Alle Kriege dieser Welt werden wegen Herrschaft begonnen. Würden die Menschen freundlich zusammenleben, ohne initiierende Aggression, dann wäre Krieg sinnlos, denn wo es nichts zu beherrschen gibt, da machte ein Krieg um ein „Hoheitsgebiet“ überhaupt keinen Sinn.
Wie ich ebenfalls in meinen früheren Kolumnen herausgearbeitet habe, ist der Meister der Herrschsüchtigen die Angst, und zwar die Angst, ihr „falsches Ich“, das „Ego“, zu verlieren. Es ist nicht leicht, den weiteren Schritt zu gehen, und zu erkennen, dass man selbst als integraler und konstitutiver Bestandteil dieses Universums auch die anderen ist, wie Avi und Zach Jake am Ende offenbaren. Jeder Mensch ist seine gesamte Wirklichkeit, das Universum aus einer einzigartigen Perspektive. Wir können das spüren, dass wir auch die anderen sind, wenn beispielsweise ein nahestehender Mensch stirbt oder uns verlässt, dann fühlt sich das so an, als stirbt auch ein Teil von uns oder geht. Und ein Teil dieses nahestehenden Menschen lebt in uns weiter. Aber um diesen letzten Schritt soll es hier und heute vordringlich gar nicht gehen. Um mit Dantes Allegorie der Commedia (Göttliche Komödie) zu sprechen, steigen wir heute nur aus der Hölle hinauf zum Läuterungsberg, um diesen zu erklimmen, und wir lassen die sich anschließenden himmlischen Sphären noch weitgehend unberührt.
Was an dem Film „Revolver“ beeindruckend ist, ist nicht nur, dass er sogar diesen „letzten Schritt“ noch andeutet, sondern vor allem, dass er zeigt, dass die Gedanken, die uns „passieren“, aus Einstellungen und Überzeugungen herrühren, die wir uns selbst gar nicht zugelegt haben, die uns antrainiert wurden, mit denen wir indoktriniert wurden oder die wir uns zugelegt haben als Kinder, um uns vor Schmerz zu schützen. Aber die Menschen identifizieren sich mit dem Gedachten, als seien sie es selbst. Sie versuchen sich vor dem Schmerz zu schützen, den sie erwarten, wenn sie ein falsches Selbstbild aufgeben, dass sie jahrzehntelang für sich selbst gehalten haben. Indes, seine Einstellungen und Überzeugungen kann man ergründen und ändern, und Wut und Trauer hierüber kann man ertragen – man kann diese Gefühle ebenfalls wahrnehmen, ohne sich von ihnen in infantiler Art und Weise mitreißen lassen zu müssen.
Schlussbetrachtung und Ausblick
„Revolver“ und die anderen vorgenannten populären Filme geben den Menschen allegorische Hinweise auf das, was Immanuel Kant den „Ausgang aus der Unmündigkeit“ nannte, also dass man sich aus dem „geistigen Gängelwagen“ befreit, in den das eigene Denken gesteckt wurde. Hierzu braucht es den Mut und die Zuversicht, den Schmerz, vor allem Wut und Trauer, ertragen zu können, dass man sich jahrzehntelang mit einem „falschen Ich“ identifizierte. „Sapere aude!“, meinte Kant hierzu, „habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
In meinen nächsten Kolumnen will ich auf klassische Stücke eingehen, die sich mit dem Drama unserer Kultur und dem Erwachsenwerden beschäftigen. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche!
Quellen:
Sind Sie bereit für die Rote Pille? Wie Ihre (teils unbewussten) Überzeugungen Ihr Denken über Politik und Wirtschaft bestimmen (Andreas Tiedtke)
Captain America – Der Kampf um die Freiheit – Teil 1 (Andreas Tiedtke)
Captain America – Der Kampf um die Freiheit – Teil 2 (Andreas Tiedtke)
Die größte Gefahr für die Menschheit: Die Psyche der Menschen – Guardians of the Galaxy 3 (Andreas Tiedtke)
John Wick IV – und die Idee dahinter. Ein Kampf um die Freiheit im Denken und Handeln (Andreas Tiedtke)
Revolver (Amazon-Link)
Nichts ist so eindeutig, dass es sich nicht umdeuten ließe (Andreas Tiedtke)
Der Kompass zum lebendigen Leben (Andreas Tiedtke)
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