Kulturgeschichte: Das Zweite Gebot des Navigierens
Digitale Götzenbilder aus traditioneller Sicht
von Carlos A. Gebauer (Pausiert)
von Carlos A. Gebauer (Pausiert) drucken
Das Zweite der Zehn Gebote ist ein Verbot. Man solle sich kein Bild von Gott machen. Was auf den ersten Blick vielleicht nicht sofort in seiner Bedeutung erkennbar ist, erweist sich bei genauerer Betrachtung als eine in der Tat grundlegend weichenstellende Anordnung. Denn es macht einen erheblichen Unterschied, ob eine Gemeinde – im weiteren Sinne: eine Gesellschaft – ihre verehrende Aufmerksamkeit auf den in einer Abbildung dargestellten Gegenstand oder vielleicht nur auf die Darstellung selbst richtet. Das biblische Gebot mahnt, das Bild Gottes nicht mit Gott selbst zu verwechseln. Und um eine solche Verwechslung von vornherein unmöglich zu machen, soll es erst gar keine Bildnisse von Gott geben.
Die Bedeutung dieser Differenzierung zwischen Abgebildetem und Abbild, zwischen Erzähltem und Erzählung, zwischen einer Realität und einem nur irgendwie gearteten Bericht von dieser Realität, kann gar nicht überschätzt werden. Die Warnung, den Vertretenen und den Vertreter nicht miteinander zu verwechseln, ist weit über den ursprünglichen theologischen Bezugsrahmen hinaus von grundlegender erkenntnistheoretischer wie praktischer Relevanz. Denn sobald irgendeine bildhafte Darstellung von etwas in die Welt kommt, sind umgehend die Fragen aufgeworfen: Geht es um das Bild selbst? Oder ist das Bild zumindest ein relevant stellvertretendes Abbild des Abgebildeten? Oder symbolisiert das Bild am Ende gar nur das Dargestellte, ohne seine Qualitäten zu enthalten oder mit ihm (teil-) identisch zu sein?
Wer je in einem Auto saß und das Navigationsmenü der Bordelektronik aktivierte, der weiß: Im Anfang aller digitalen Navigation steht die Bestätigung erheischende Selbstdefinition des Systems, nur ein reines Abbild zu sein. Das Hilfsmittel will sich nur als Mittel verstanden wissen, nie aber die Sache selbst sein: Der nutzende Fahrer wird gewarnt, nur die Straße selbst für die Straße zu halten. Bei jedem Zweifel aus einer etwaigen Widersprüchlichkeit hat er sich an der Realität auszurichten, nicht aber der nur erzählenden Darstellung auf dem bunten Monitor oder den anweisenden Worten aus dem Bordlautsprecher zu vertrauen. Der Starthinweis jedes Navigationssystems ist somit eine aktualisierte Gestalt des zweiten biblischen Gebotes.
Am Rande: Jedes „icon“ auf unseren Bildschirmen ist begriffsgeschichtlich ein gleichnishaftes Abbild (griechisch: εἰκών/eikṓn). Ein „Idol“ (εἴδωλον/eídōlon) bezeichnet demgegenüber nur ein schattenhaftes Trugbild. Das mag erklären, warum Altphilologen in ihre Textnachrichten nur selten Smileys einfügen und auch im Straßenverkehr nicht fahren wie Formel-1-Idole.
Doch zurück zu den Gefahren der Verwechslung des Abgebildeten mit dem Abbild. In der katholischen Tradition markiert das Zweite Konzil von Nicäa, das im Jahr 787 stattfand, den klarstellenden Orientierungspunkt für den Umgang mit Heiligenbildern: Ikonen dürfen verehrt, nicht aber angebetet werden. Der erbitterte Streit zwischen Ikonodulen und Ikonoklasten sollte damit ein Ende finden. Pikanterweise, sagt man, werde die historische Rezeption der seinerzeitigen Hergänge heute dadurch erschwert, dass die je siegreichen Disputanten die schriftlichen Quellen ihrer Gegner vernichteten, was das detaillierte Nachvollziehen ihrer Argumentation unmöglich mache. Das Löschen von SMS oder sonstigen Chatverläufen zur machtbewusst hermeneutischen Dominanz hat augenscheinlich eine lange Tradition.
Was aber lässt sich aus dem Bilderverbot und seiner differenzierten Rezeption aus heutiger Sicht lernen? Hat das Ganze überhaupt noch eine Bedeutung? Ich neige zu der Auffassung, dass die alte Mahnung, Realitäten nicht mit der Erzählung von Realitäten zu vermischen, in Zeiten der allumfassenden Digitalisierung sogar noch umso größeres Gewicht erfahren hat. Je mehr wir glauben, die Welt virtuell abbilden zu können und ihre gegenwärtigen Zustände mit scheinintelligenten Entwicklungsprognosen sogar in aussagenkräftige zukünftige Szenarien modellhaft fortschreiben zu dürfen, desto wesentlicher wird es, das Reale vom Fiktiven, das Wirkliche vom Phantastischen und das Objektive vom Traumhaften zu unterscheiden. In das Modell eines Traumhauses kann man nicht wirklich einziehen, auch wenn sein Designer verspricht, es mit einem 3D-Drucker in die Welt stellen zu wollen. Und auch das rolandemmerichhafteste Horrorszenario ist kein Grund für Panikattacken, solange die Welt außerhalb des Navigationsmonitors noch immer nicht in viralen Flammen versinkt.
Was ich sagen will, ist: Denken in klaren Prinzipien ist der beste Schutz gegen Massenpsychosen. Denn auch jede Psychose ist definitionsgemäß dadurch gekennzeichnet, Realitätsverlust zu sein. Auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, statt irrealen Phantasien nachzujagen, hält eine Gesellschaft im Hier und Jetzt. Und über Gegebenes lässt sich dort erfahrungsgemäß schneller Einigkeit herstellen als über diffuse Fiktionen. Das dient im Ergebnis auch dem gesellschaftlichen Frieden.
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