Gesellschaft: Gleichheit als Ideal
Weder praktikabel noch wünschenswert
von Karl-Friedrich Israel (Pausiert)
von Karl-Friedrich Israel (Pausiert) drucken
In der öffentlichen Diskussion wird das Ideal der Gleichheit hochgehalten. Auch wenn viele Menschen erkennen, dass eine vollständige Ergebnisgleichheit selbst mit zahlreichen staatlichen Interventionen in Wirtschaft und Gesellschaft niemals erreicht werden kann, so sind sich doch fast alle darin einig, dass der Staat die sogenannte Chancengleichheit gewährleisten müsse. Wenn man es nicht schaffe, eine absolute Chancengleichheit herzustellen, dann sollte jedem Mitglied der Gesellschaft zumindest eine faire Chance geschaffen werden, um ein glückliches und erfolgreiches Leben zu führen.
Das klassische Ideal der Chancengleichheit findet sich in den Augen vieler
Konservativer zum Beispiel in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die
davon ausgeht, dass jeder Mensch gleich geschaffen ist und deshalb gleiche
Rechte hat. Auf Grundlage dieser Rechte können Menschen ihre eigenen
Entscheidungen fällen und frei nach Glück streben. Diese Form der Gleichheit allein
führt aber in den Augen vieler Menschen nicht zu fairen Ergebnissen. Deshalb
nimmt heutzutage die Ergebnisgleichheit zunehmend Raum in der Debatte ein. In
der Regel befürworten Konservative eine Form der Chancengleichheit, die weniger
Staatsinterventionismus bedarf, und Linksprogressive eine Form der
Ergebnisgleichheit, die insbesondere eine stärkere Einkommens- und
Vermögensumverteilung sowie positive Diskriminierung am Arbeitsplatz erfordert.
Wenn man mit dem libertären Philosophen Murray Rothbard auf diese Diskussion blickt, so muss man sagen, dass sie völlig verfehlt ist. Das Naturrecht, auf dem sowohl die amerikanische Unabhängigkeitserklärung als auch Rothbards libertäre Philosophie aufbauen, geht zwar davon aus, dass jeder Mensch gleiche Rechte hat, nämlich Eigentumsrechte an sich selbst und an rechtmäßig erworbenen Dingen. Aber aus diesen gleichen Rechten lässt sich keinesfalls ein Recht auf gleiche Chancen ableiten und schon gar kein Recht auf gleiche Ergebnisse. Unsere Eigentumsrechte beinhalten nämlich auch das Recht, gegenüber anderen Menschen zu diskriminieren. Sie beinhalten sogar das Recht, auf Grundlage von Geschlecht und Herkunft zu diskriminieren.
Eine standardmäßige Kritik des Ideals der Chancengleichheit fragt, wie sie in der Praxis überhaupt umgesetzt werden sollte. Wie genau lassen sich Chancen messen, sodass sie ausgeglichen werden könnten? Rothbard kommentierte dies wie folgt: „Viele Menschen glauben, dass Einkommensgleichheit zwar ein absurdes Ideal ist, dass es aber durch das Ideal der Chancengleichheit ersetzt werden kann. Doch auch dieses Konzept ist ebenso sinnlos wie das erste. Wie kann die Chance eines New Yorkers und die eines Inders, um Manhattan zu segeln oder im Ganges zu schwimmen, ‚gleichgemacht‘ werden? Die unvermeidliche Standortvielfalt des Menschen schließt jede Möglichkeit der ‚Chancengleichheit‘ aus.“
Außerdem würde die praktische Umsetzung des Ziels der Chancengleichheit zu Eingriffen führen, die aus Sicht der meisten Menschen inakzeptabel sind. Man müsste die Intelligenten dümmer machen und die Schönen hässlicher. Kinder müssten kollektiv erzogen werden, um sie vom Einfluss ihrer Familien fernzuhalten und vieles mehr. Das Erreichen einer strikten Chancengleichheit würde auch eine erhebliche Umverteilung von Einkommen und Vermögen erfordern. Aber wir können schlichtweg nicht alle Ungerechtigkeiten aus dem Weg räumen. In der Praxis müssen wir uns mit einer mondäneren Form der Gerechtigkeit abfinden. Die „kosmische Gerechtigkeit“, wie sie Thomas Sowell nannte, bleibt uns in der echten Welt, in der wir leben, verwehrt.
Diese Kritik an Chancen- und Ergebnisgleichheit stellt auf die Limitierungen in der praktischen Umsetzung ab. Diese Kritik ist wichtig und berechtigt, aber sie trifft noch nicht den Kern der Sache. Die wichtigere Frage ist, ob Gleichheit überhaupt als Ideal gelten sollte. Ist eine Gesellschaft, in der Menschen sehr unterschiedliche Lebensaussichten haben, notwendigerweise schlechter als eine Gesellschaft, in der sie gleiche Lebensaussichten haben? Es wird niemals ein Argument geliefert, warum Chancengleichheit überhaupt wünschenswert ist. Vielleicht ist Ungleichheit besser als Gleichheit.
Diese Überlegung ist nicht nur theoretischer Natur, sondern hat auch wichtige praktische Implikationen. Sobald man nämlich das Ideal der Chancengleichheit auch nur implizit anerkennt, findet man sich in Debatten wieder, die man nicht gewinnen kann. Gibt man den kleinen Finger, wird die ganze Hand genommen. Wer annimmt, dass Chancengleichheit ein wünschenswerter Zustand sei, öffnet dem Staatsinterventionismus Tür und Tor. Chancengleichheit ist nicht nur unerreichbar in der Praxis. Sie ist nicht einmal wünschenswert in der Theorie. Eine Welt absoluter Gleichheit wäre eine graue Welt.
David Gordon (2024): The „Equality of Opportunity“ Fallacy.
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