Libertäre Philosophie – Teil 6: Die Geburt des Rechtspositivismus in China
Der „Legalismus“
von Stefan Blankertz
China, fünftes bis drittes Jahrhundert von Christus: Etliche Fürstentümer und Reiche liegen im Kampf miteinander, und am Ende der Periode vereinigte Qin Shihuangdi als erster Kaiser das Land. Es ist klar, dass hier weder der Daoismus mit seinem libertären Kern (Teil 2 der Serie) noch der konservative Konfuzianismus (Teil 5 der Serie) mit seinen Herrschaftsbeschränkungen und seiner Feindschaft gegen Militärherrschaft das Fundament für die politisch-militärisch Handelnden bilden konnte. Es entstand der Legalismus.
Legalismus ist eine Sammelbezeichnung, und es ist nur konsequent, dass er mit keinem Namen verbunden ist. Der Legalismus ist eine menschenverachtende und unpersönliche Lehre. In Umkehrung des Konfuzianismus erklärte der Legalismus nicht Bildung, sondern Militärdienst zum einzigen Kriterium von Karriere. Im Prinzip sollte jeder Mann Landwirt und Soldat in einem sein. Im Militärdienst zählt nur eins, nämlich der Gehorsam.
Die gesamte Gesellschaft wird laut dem Legalismus mit dem alleinigen Prinzip von Lohn und Strafe reguliert: Wer sich mit den Regeln und Befehlen konform verhält, wird belohnt, wer gegen sie verstößt, erhält eine Strafe. Die Regeln und Befehle wiederum richten sich nach dem alleinigen Prinzip der Staatsraison. Weder kann die Frage der Daoisten aufkommen, ob es besser sei, nicht zu handeln, noch gibt es Platz für eine konfuzianische Herrschaftsbeschränkung. Die Herrschaft über die Gesellschaft hat vollkommen zu sein. Basta. Warum? Weil wir’s können. Die schiere Möglichkeit, die Gesellschaft per militärischer Gewalt unter Kontrolle zu halten, reicht als Rechtfertigung. Darüber hinaus kann man laut den Legalisten keine Rechtfertigung verlangen. Wenn die Herrschenden gemäß den Erkenntnissen der Legalisten handeln, wird ihre Herrschaft ewig dauern, so versprechen die Legalisten es ihnen, denn mit dem Instrument von Lohn und Strafe lässt sich jede Bevölkerung in eine beliebige Richtung erziehen.
Obwohl Mao Zedong als Student einen Lobgesang auf den Legalismus der Qin-Dynastie verfasste und deren Antikonfuzianismus hervorhob, muss man doch sagen, dass gegenüber der Ödnis des Legalismus selbst ein Schlächter wie Mao mehr Humanität hatte, denn wenigstens verfolgte er eine Vision, in welch pervertierter Form auch immer: Er hatte einen Inhalt für seine Politik. Für den Legalismus gibt es keinen solchen Inhalt, ausgenommen die Machterhaltung und -ausweitung.
Am Legalismus und an seinem historischen Kontext sind nur manche äußeren Begrifflichkeiten und zeit- und kulturbedingte Besonderheiten befremdlich. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass der Legalismus die Wahrheit des Staats schlechthin ausdrückt. Egal, welche Gesetze ein Staat erlässt, und egal, wie sie zustande kommen, er wird diejenigen belohnen, die ihnen folgen, und diejenigen bestrafen, die ihnen zuwiderhandeln. Wenn er das nicht tut, wird er früher oder später untergehen. Da hatten die Legalisten völlig recht. Dieses System von Lohn und Strafe aufgrund der Gesetze muss zudem völlig unpersönlich sein. Es dürfen keine Ausnahmen gemacht werden, weder aufgrund der Sympathie eines Herrschers oder Beamten für einen Abweichler noch aufgrund irgendwelcher anderen Erwägungen. Sobald das Prinzip von Lohn und Strafe nicht konsequent umgesetzt wird, gerät das ganze System aus dem Gleichgewicht und jeder tut, was ihm passt. Knapp zweieinhalbtausend Jahre später stellte der westliche Behaviorismus, nach umfangreichen Forschungen, genau das fest, was die Legalisten schon behauptet hatten: Mit konsequent angewandter Konditionierung durch Lohn und Strafe lässt sich (scheinbar) jedwedes Vorhaben in die Menschen hineinprojizieren.
Auch der westliche Rechtspositivismus brauchte rund tausend Jahre, um zu entstehen. Welche Verrenkungen auch die Rechtstheorie seit der Machtübernahme durch das Christentum im Römischen Reich unternommen hatte, sie waren doch immer davon ausgegangen, dass das Recht und das Handeln der Herrscher an das irgendwie Gute, Natürliche und vor allem an Gottes Willen gebunden seien. Der Heilige Augustinus hatte kurz und bündig statuiert, ein unrechtes Gesetz habe keine Bindungskraft, und Thomas von Aquin war sich sicher, dass nur das natürliche Gesetz universell gelte, während rechtspositivistische Regelungen keinen anderen als denjenigen bänden, der der Gemeinschaft freiwillig angehöre. Beides war nicht die Realität der Staaten, aber es war doch der Maßstab, an dem sie gemessen wurden.
Sowohl Augustinus als auch Thomas von Aquin und alle anderen in ihrer Denkrichtung waren ausgesprochen naiv zu glauben, dass ihre Ideen die Grundlage eines Staats bilden könnten. Die Einsicht in die wirklichen Grundlagen des Staats kam in Europa erst recht spät mit dem Rechtspositivismus. Und immer noch herrscht die naive Vorstellung vor, die Grundlage des Staats könnte doch irgendwie Menschenwürde sein. Das sind allerdings nur Leerformeln, die in Präambeln der Verfassungen stehen oder von Politkern in Sonntagsreden benutzt werden. Denn die tägliche Praxis besteht immer und überall darin, das Handeln der Menschen an dem Wortlaut des Gesetzes zu messen: Jedwede Abweichung wird bestraft. Über Recht und Unrecht kann nicht diskutiert werden. Das würde den Staat aus den Angeln heben und zur Anarchie führen, die zu fürchten der Staat dem Volk mit unvorstellbarer Brutalität beigebracht hat, im Morgen- wie im Abendland.
Soll man den nackten Realismus der Legalisten loben oder ihre Menschenverachtung geißeln? Als Lehre hat der Legalismus, gerade wegen seines nackten Realismus, nur wenige Jahrhunderte überlebt und wird heute generell abgelehnt. Zugleich wird er getreu umgesetzt, in China etwa durch das Sozialpunktesystem (wer sich sozialkonform verhält, kriegt Pluspunkte), und zwar Wort für Wort. Die Herrschenden in Ost und West handeln, als wenn sie ein jahreslanges Studium der legalistischen Texte hinter sich hätten. Kein Orwell könnte ihnen eine bessere Vorlage liefern.
Die gängige Vorstellung, es gebe einen tiefgreifenden Unterschied zwischen östlicher und westlicher Kultur, zwischen östlicher und westlicher Philosophie, zwischen östlicher und westlicher Religion, zwischen östlicher und westlicher Politik, ist bereits im Anfang grundfalsch. Die kulturellen, historischen und geographischen Unterschiede sind recht äußerlich. Eigentlich besteht der Unterschied zwischen dem Eintreten für Freiheit und dem rücksichtslosen Vollzug von Herrschaft. Sowohl im Osten als auch im Westen kennt man beides.
Auch in der Geschichte des Kaisers Qin gibt es einen kleinen, sehr kleinen Funken Hoffnung. Als er starb, getraute sich sein Kanzler zunächst nicht, seinen Tod bekannt zu geben, weil er den Aufstand der geknechteten Bevölkerung fürchtete. Monatelang zog er mit dem verwesenden Leichnam durchs Land. Das heißt doch, dass sogar der Kanzler realisiert hatte, dass erstens die Bevölkerung geknechtet war und dass sie zweitens durch die Konditionierung nicht endgültig unterworfen ward. Bei der kleinsten Lücke im System würde sie den Aufstand proben. Er weiß das! Er weiß mehr als die Legalisten, die ihm den ideologischen Überbau für seine Herrschaft liefern. Er ist als Praktiker klüger als sie. Er handelt sogar klüger, als sie es raten.
Der Funken Hoffnung sagt uns: Wie hermetisch und wie brutal das System der Konditionierung auch sein mag, der Impuls der menschlichen Freiheit ist schlicht nicht totzukriegen. Es scheint zunächst so einfach zu sein, eine Herrschaft auf dem simplen System von Lohn und Strafe aufzubauen. Es funktioniert, leider, es funktioniert allzu gut, am Anfang. Aber es funktioniert nicht so gut, als dass es unendlich fortgeschrieben werden kann. Es gibt dafür zwei Gründe. Der eine Grund ist, dass die Herrschaft immer mehr Probleme schafft, als sie lösen kann – je hermetischer sie ausgeübt wird, umso mehr. Der andere Grund ist, dass die Menschen im tiefsten Herzen nach Freiheit streben. Sie ihnen vorzuenthalten, kann mit Gewalt, mit Angst, mit Konditionierung eine Zeitlang funktionieren, aber nicht für immer.
Leider wissen wir nicht, wann der nächste Punkt sein wird, an denen die Menschen „Freiheit!“ rufen werden, aber kein Herrschender – und wähne er sich auch demokratisch gewählt – soll sich je sicher fühlen vor diesem Ruf.
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