Fake-Zeitalter: Medienmatrizen sind nicht mit der „Realität“ zu verwechseln
Und der eigene Wissenshorizont auch nicht
von Axel B.C. Krauss
Am 16. Juli veröffentlichte die „Welt“ einen Artikel („Der Moment, in dem einem die Realität abhandenkommt“, Hannah Lühmann), der als Musterbeispiel für eine der folgenschwersten Fehlwahrnehmungen des Massen(medien)zeitalters angesehen werden kann. Gleich im Einleitungstext steht ein symptomatischer Satz: „Wurde der Mordanschlag auf Donald Trump inszeniert – oder gar absichtlich zugelassen? Überhaupt nichts spricht dafür. Trotzdem habe auch ich in letzter Zeit das Gefühl, an der Realität zu zweifeln. Was ist da los?“
Fehler Nummer eins: „Überhaupt nichts spricht dafür.“ Das ist ein rein subjektives Urteil Lühmanns, das mit dem, was tatsächlich geschehen sein könnte, nicht viel zu tun haben muss. Es steht keinesfalls repräsentativ (als letztgültiges Abbild) für eine „objektive Realität“ – genau davon geht Lühmann aber offensichtlich aus, und das wird ihr zum Verhängnis. Daher rühren ihre berechtigten Zweifel. Und Lühmann schreibt ja selber, sie hätte „trotzdem“ das Gefühl, „an der Realität zu zweifeln“. Was da los ist? Nun, wie gesagt: Dieses „trotzdem“ ist das Resultat einer fatalen Verwechslung: Was ich zu einem bestimmten Zeitpunkt über etwas weiß, muss nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Das ist trivial, denn mein Urteil hängt ja von den Informationen ab, die ich darüber habe. Lühmann hat gar keinen Grund, an sich zu zweifeln, denn ihre Zweifel sind Ausdruck einer gesunden Psyche. Viel schlimmer wäre es, wenn sie überhaupt keine Zweifel hätte.
Es lohnt sich, gerade diesen Fall noch mal ein wenig aufzurollen, erst recht angesichts einer äußerst ominösen Meldung, die kurz nach dem Vorfall durch die alternativen Medien geisterte und über die ich bereits berichtet habe. Ein Pastor behauptete, er habe das Attentat detailliert vorhergesehen. Er beschreibt es tatsächlich in allen Einzelheiten, inklusive der Kugel, die Trumps Ohr streift. Danach, so der angebliche Pastor, werde Trump „zu Jesus finden“ und damit, so der Tenor, quasi im Auftrag des Herrn handeln, wenn er abermals Präsident werden sollte. Das Video, in dem er interviewt wird, soll bereits drei Monate davor aufgenommen worden sein. Lassen Sie uns das streng logisch analysieren, und zwar gemäß eines meiner Lieblingssprüche aus dem Munde einer der berühmtesten Figuren in der Geschichte der Kriminalliteratur, Sherlock Holmes: „Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, muss das, was übrigbleibt, auch wenn es unwahrscheinlich klingen mag, die Wahrheit sein.“
Die naheliegendste, plausibelste Erklärung wäre, dass es sich schlicht um eine Fälschung handelte. Das Erscheinungsdatum des Videos wurde manipuliert. Doch welche Motive könnte es dafür geben? Nichts leichter als das: Es handelte sich um eine Wahlkampf-PsyOp, die dem Kandidaten eine religiöse Aura verleihen sollte. Dieser, so die Suggestion, sei wohl von Gott persönlich auf die Stirn geküsst und vor einem Attentat bewahrt worden, um einen himmlischen Auftrag zu erfüllen. Es ist schließlich alles andere als unüblich – gerade zu Wahlkampfzeiten –, die Kandidaten mit allen erdenklichen Methoden in der Wählergunst nach vorne zu bringen. Könnte es so einfach sein? Aber ja.
Zweite Möglichkeit: Das Erscheinungsdatum ist echt. Dafür gäbe es wiederrum zwei Erklärungsmöglichkeiten: Der angebliche Pastor sagte die Wahrheit, hatte also eine Eingebung, sah den Attentatsversuch detailliert voraus und Trump wird – genau wie die Blues Brothers – die Band wieder zusammenbringen, um, sehr zur Freude Gottes, ganz Amerika in einen Bible Belt zu verwandeln, einen Garten Eden, wahrlich, ich sage euch. Zweite Deutung: Er sagte zwar die Wahrheit, aber nicht, weil er irgendetwas vorausgesehen hätte oder weil das Lamm, das auf dem Thron sitzt, mit Trump jeden Abend kegelt, sondern weil es sich um eine vorausgeplante und somit inszenierte Aktion handelte, der angebliche Pastor also eingeweiht war.
Kein Wunder, dass man da schon mal an seinen Sinnen zweifelt und sich fragt: Was ist überhaupt noch real?
Der Grund für Lühmanns Unwohlsein könnte auch darin zu suchen sein, dass die Menschheit, wie James Corbett treffend feststellte, nun tatsächlich im Zeitalter des Fake lebt: Was man aus den Massenmedien erfährt, ob TV, Radio oder Print, ist schon lange kein Garant mehr für „Wahrheit“ oder „Wirklichkeit“. Der französische Philosoph Jean Beaudrillard hatte das schon früh erkannt, nämlich zu Zeiten des Irakkriegs. Er veröffentlichte damals einen Essay mit dem Titel „Der Irakkrieg fand nicht statt“. Womit er nicht sagen wollte, dass er tatsächlich nicht stattgefunden habe, sondern nur, dass alles, was Nichtbeteiligte darüber erfuhren, aus „zweiter Hand“ stammte: aus medialen Kanälen, die natürlich auch mit Auslassungen und Manipulationen arbeiten können, und zwar aus politischen Gründen. Es kann eine sehr unvollständige oder stark verzerrte Darstellung sein.
Das mit Abstand denkwürdigste Beispiel der letzten Jahre war zweifellos „Corona“: Hier konnte man ganz „vorzüglich“ studieren, wie man durch flächendeckende Berichte den Eindruck einer vermeintlich „objektiven“ Realität erwecken kann. Denn auch das ist eines der Hauptprobleme des massenmedialen Zeitalters: die breitflächige Informationsverteilung. Wenn ich jeden Tag an jedem Kiosk, jeder Bahnhofsbuchhandlung, am Flughafen, in Restaurants, in der Kneipe, aus dem TV, dem Radio et cetera, et cetera mit bestimmten Informationen bombardiert werde, könnte ich geneigt sein, dies allein – aufgrund der hohen Informationsdichte – für die „Realität“ zu halten. Die Omnipräsenz der Informationen spielt dabei also eine ganz wesentliche Rolle. Erschwerend kommt hinzu, dass es in den modernen Massengesellschaften tatsächlich unmöglich ist, jedes einzelne Mitglied persönlich zu kennen und nach seinen eigenen Erfahrungen zu fragen, um einen „Abgleich“ mit den massenmedialen Konstrukten vornehmen zu können.
Gerade im Zeitalter der „Deep Fakes“, mit denen man jemanden in einem Video Dinge sagen lassen kann, die er nie wirklich sagte, gerade im Zeitalter fortschrittlicher Stimmsynthesizer (mal ganz zu schweigen von bezahlten Stimmenimitatoren), mit denen man Leuten beispielsweise in einem Fake-Telefonat alles in den Mund legen lassen kann, was man will, gerade angesichts der atemberaubenden technischen Möglichkeiten, die sich heute bieten, darf man nicht nur zweifeln – man muss es.
Bis nächste Woche.
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