09. August 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 10 Augustinus: Das Verhängnis des Christentums

Dieses herrschaftstauglich machen

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Zvonimir Atletic / Shutterstock Augustinus von Hippo: Betrachtete Menschheit als „massa peccati („Masse der Sünde“)

Als Augustinus von Hippo (354–430) die Bühne des Christentums betrat, war das Christentum ganz frisch zur Staatsreligion geworden (381 durch Kaiser Theodosius I.). Augustinus, Sohn eines römischen Kaufmanns und einer christlichen nordafrikanischen Berberfrau, hatte laut seiner späteren Selbstbezichtigung ein Leben in Sünde hinter sich, propagierte den gnostischen Glauben des Manichäismus, lebte im Konkubinat und pflegte ein inzestuöses Verhältnis zu seiner Mutter. 386 aber hatte er ein Bekehrungserlebnis, in Folge dessen er sich von dem Mailänder Bischof Ambrosius (333–397), dem ersten römischen Staatsbeamten in diesem Amt, taufen ließ. Er schwor allen Sünden ab und führte fortan ein Leben in Kontemplation, ab 396 diente er als Bischof von Hippo (heute Algerien). Augustinus traf fünf Entscheidungen mit welthistorisch katastrophalen Auswirkungen.

Erstens: Zur philosophischen Grundlage des Christentums machte er den Platonismus, obwohl (oder gerade weil) er zuvor eine enge Verbindung zur skeptischen neuaristotelischen Schule gehabt hatte. Für die obersten Ideen, von denen alles Sein nach Platon ihren Anfang nehme, setzte Augustinus, wie naheliegend, den einen (christlichen) Gott. Weder für Zweifel noch für das empirische Erforschen der irdischen Gegebenheiten gibt es einen Raum, einen Sinn. Die oberste Wahrheit steht fest, und aus ihr lässt sich alles lückenlos ableiten, was der Mensch zu seinem Heil erkennen muss.

Zweitens: Da das Sein aus Gott als Idee folgt, gibt es nach Augustinus auch wenig Raum für eine positiv gesehene Sinn- und Leiblichkeit – diese gehören zum Reich der Sünde. An dieser Stelle macht sich ganz klar Augustinus’ Herkunft aus dem Manichäismus bemerkbar, der lehrte, dass die Welt in den reinen Geist und in den bösen Körper gespalten sei. Um nicht ganz in den Manichäismus abzudriften, baute Augustinus hier drei kleine Bremsen ein. Immerhin hat der Mensch seinen Körper von Gott. Ihn zu beschädigen oder nicht gut zu behandeln, ist zugleich ein Unehrerbietigkeit gegenüber Gottes Gnadengeschenk. Darüber hinaus erkannte Augustinus realistisch, dass ein zu striktes Vorgehen gegen die Bedürfnisse der Menschen – insbesondere gegen die sexuellen Bedürfnisse – jede Gesellschaft zerstören würde. Augustinus bekämpfte solche Konzeptionen der Kirche, die nur aus sündenfreien „Reinen“ bestehen sollte, und setzte dagegen, sie sei eine Gemeinschaft von Sündern. In jeder dieser drei Hinsichten (also der Aufforderung, den gottgegebenen Körper zu schätzen, der Zurückhaltung in Sachen Unterdrückung der Sexualität sowie der Sicht auf die Kirche als Gemeinschaft der Sünder) gab es später Anknüpfungspunkte für christliche Philosophen, die das Christentum aristotelisch aufklärten (siehe Teil 14 der Serie). Dennoch zielt die Hauptstoßrichtung der Lehre von Augustinus in Richtung Askese.

Drittens: Aus den Briefen des Apostels Paulus las Augustinus heraus, dass jeder Mensch als Sünder geboren werde. Von Beginn an sei er ein Teufel. In seinen Bekenntnissen findet sich die herzzerreißende Passage, in der sich Augustinus selber anklagt, bereits als Säugling seine Eltern mit seinem Schreien um den Verstand gebracht zu haben. Nur Gott könne ein Leben ohne Sünde per Gnade ermöglichen. Diese Lehre steht der persönlichen Verantwortung entgegen und wurde von der katholischen Kirche in dieser Form nie übernommen; sie wurde erst durch die Reformatoren, insbesondere Johannes Calvin, wiederbelebt. Allerdings entfaltete sie in einer speziellen Weise eine allgemeine Wirkung: Da jedes Kind in Sünde geboren werde, müsse es so früh wie möglich nach der Geburt getauft werden. Nur durch die Taufe habe es eine Chance auf Rettung. Eine verdrehtere „Logik“ kann es nicht geben: Das Kind, das noch nichts getan hat, sei persönlich haftbar für die Sünde der ersten Eltern (Adam und Eva), aber es könne im späteren Leben nichts tun, um ein tugendhaftes Leben zu führen. Man ist also verantwortlich für etwas, was man nicht getan hat, aber nicht verantwortlich für das, was man tut. Es brauchte sechshundert Jahre, bis der christliche Philosoph Abaelard (Teil 12 dieser Serie) diesen Widersinn aufdeckte.

Viertens: Platonismus, Askese und Sündenlehre für sich genommen mögen bedauerlich sein, haben aber erst einmal nur Wirkung auf diejenigen, die sich dem Christentum (im Sinne des Augustinus) anschließen. Verhängnisvoll wird es dadurch, dass Augustinus die Verbindung der christlichen Kirche mit dem Staat bekräftigte. Er wusste sehr gut, dass jeder Staat aus Räuberbanden hervorgegangen ist. Solange keine Gerechtigkeit herrsche, sei Herrschaft unrecht. Einem ungerechten Gesetz ist niemand Gehorsam schuldig, so Augustinus (damit widersprach er, nebenbei gesagt, der eindeutigen Anweisung des Apostels Paulus, der die Unterwerfung unter jedwede Herrschaft ohne Wenn und Aber verlangt hatte, Römer 13:1 bis 13:7). Aber was ist das Kriterium für „gerecht“? Ganz einfach: Das Kriterium lautet, dass der Herrscher ein Christ ist. Aufgrund des Platonismus von Augustinus kommt für die Prüfung des Kriteriums die Empirie nicht infrage. Wir untersuchen nicht, was ein christlicher Herrscher tut. Sondern er wird, weil er ein Christ ist, gerecht sein. Dies ist eine hermetische Abdichtung der Lehre gegen alle Möglichkeiten einer kritischen Prüfung. Die enge Verbindung von Christentum und Staat brauchte Augustinus, um seine – angeblich christliche – Lehre über den Kreis der Gläubigen hinaus gesellschaftlich verbindlich zu machen: Askese und Befolgung der Sündenlehre sind nicht mehr Angelegenheit des einzelnen Gläubigen, und Ungläubige bleiben nicht mehr verschont – nein, die Staatsgewalt wird in Bewegung gesetzt, um Ungläubige zu knechten und Abweichler zu verfolgen.

Fünftens: Mit der Durchsetzung einer bestimmten Lehre sind wir nun ganz in Platons Utopie des Tugendterrors. Das römische Recht war in weiten Teilen ein Privatrecht. Ein wichtiger Grundsatz lautete, wo kein Kläger, da kein Richter. Das hieß: Rechtsverfolgung ist strikt daran gebunden, dass es einen Geschädigten gibt, der auf Entschädigung dringt. Nun wurde auf einmal eine Klasse von Vergehen geschaffen, bei denen es gar keine Geschädigten gab, insbesondere bei irgendwelchen Abweichungen in Glaubensfragen und einem unsittlichen Lebenswandel; zunächst war vor allem Homosexualität gemeint. Trotz aller Judenfeindschaft, der Augustinus sich schuldig machte, war die Kriminalisierung der Homosexualität übrigens etwas, das sich weder aus der griechischen oder römischen Antike noch aus den Lehren Jesus Christus’ ableiten ließ, sondern einzig und allein aus der Thora (oder dem „Alten Testament“).

Das völlige Abgleiten des Christentums in staatsterroristischen Dogmatismus hat nicht eine Entscheidung des Augustinus verhindert, sondern eine Eigenart des Christentums, das sich freilich besonders in Augustinus’ Wirkungszeit zeigte. Die Sprache des Christentums als Staatsreligion musste Latein sein, die grundlegenden Text jedoch lagen in hebräischer und in griechischer Sprache vor. In den Auseinandersetzungen mit Hieronymus (348–420), der sich um die Übersetzung der heiligen Texte bemühte, wurde klar, dass es stets der Interpretation bedurfte, um sie zu verstehen. Die lateinische „Vulgata“ (Übersetzung von Altem und Neuem Testament) ist zu weiten Teilen sein Werk. Hieronymus wies Augustinus zu dessen Erstaunen und Ärger nach, dass die hebräische Thora und ihre griechische Übersetzung, die „Septuaginta“, sich in wesentlichen Punkten unterschied. Anders als Augustinus hatte Hieronymus keine Berührungsängste mit Juden, im Gegenteil, er nahm Kontakt zu Rabbinern auf, um den hebräischen Text zu verstehen und auszulegen.

Die fünf Entscheidungen, die Augustinus getroffen hatte – Platonismus, Sinnes- und Leibfeindlichkeit, Erbsünde als angeborene Schuld, Verknüpfung von Staat und Kirche sowie Erlaubnis der Tötung von Abweichlern –, nahmen dem Christentum den Stachel des Widerstands und formten es zu einer perfekten Ideologie der Staatsgewalt um. Alles, was Platon sich an Tugendterror ausgedacht hatte, wurde blutige Realität, weit über das Christentum hinaus in den Ideologien, die aus ihm folgten, wie etwa der Staatskommunismus. Augustinus ist ein Verhängnis. Er hätte sich anders entscheiden können. Seine Sünde bestand nicht darin, dass er als Baby geschrien hatte.


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