29. August 2024 06:00

Wohlfahrtsstaat Unwort „Sozialabbau“

Größeres Hilfspotenzial in freiheitlicheren Systemen

von Olivier Kessler

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Bildquelle: Arthur C.C. Hsieh / Shutterstock Menschen sind von Natur aus empathisch: Dafür braucht es keinen Staat

Wann immer der völlig aus dem Ruder gelaufene und übergewichtige Wohlfahrtsstaat gebändigt und zurückgebunden werden soll, wittern die Kritiker einen „Sozialabbau“. Sie tun so, als ob es zu einer Reduktion des „Sozialen“ käme, dass also Bedürftigen weniger Hilfe widerfahren würde. Implizit steckt also der Vorwurf mit drin, solche Liberalisierungsschritte seien unmenschlich, da sie ein Angriff auf die Schwächsten seien. Der Warnbegriff des „Sozialabbaus“ ist daher ein nicht zu unterschätzendes Instrument zur Wahrung des nicht nachhaltigen sozialdemokratischen Status quo. Höchste Zeit, mit diesem Unwort aufzuräumen.

„Sozialabbau“ ist deshalb ein Unwort, weil der Begriff „sozial“, der in „Sozialabbau“ vorkommt, ein Wiesel-Wort ist, also ein Begriff mit vager und unscharfer Bedeutung. Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek bezeichnete den Begriff sogar als „das Wiesel-Wort par excellence“: „Wir verdanken den Amerikanern eine große Bereicherung der Sprache durch den bezeichnenden Ausdruck „weasel word“. So wie das kleine Raubtier, das auch wir Wiesel nennen, angeblich aus einem Ei allen Inhalt heraussaugen kann, ohne dass man dies nachher der leeren Schale anmerkt, so sind die Wiesel-Wörter jene, die, wenn man sie einem Wort hinzufügt, dieses Wort jedes Inhalts und jeder Bedeutung berauben. Ich glaube, das Wiesel-Wort par excellence ist das Wort sozial. Was es eigentlich heißt, weiß niemand. Wahr ist nur, dass eine soziale Marktwirtschaft keine Marktwirtschaft, ein sozialer Rechtsstaat kein Rechtsstaat, ein soziales Gewissen kein Gewissen, soziale Gerechtigkeit keine Gerechtigkeit und – wie ich fürchte – auch soziale Demokratie keine Demokratie ist.

In der Tat hat das Wort viele verschiedene Bedeutungen, etwa das „Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft“ oder auch „gemeinnützig“, „hilfsbereit“, „karitativ“ oder „selbstlos“. Worauf jene vermutlich abzielen, die den Begriff „Sozialabbau“ exzessiv verwenden, ist die Behauptung, dass die Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft abnehme und Mitmenschen in Not weniger unterstützt würden. Wenn das damit gemeint ist, handelt es sich um nichts weiter als eine unbegründete Behauptung ohne Realitätsbezug.

Hier ist derselbe Mythos am Werk, der für viele Entstaatlichungsängste mitverantwortlich ist. „Wenn der Staat etwas nicht mehr leistet, so gibt es die Leistung danach nicht mehr“, so die krude Annahme. Wenn der Staat keine Straßen baut, würde niemand Straßen bauen. Wenn der Staat keine Medien alimentierte, würde es keine Medien geben. Wenn der Staat keine Spitäler bauen würde, gäbe es keine Gesundheitsversorgung. Und eben: Wenn der Staat nicht umfassend für das „Soziale“ zuständig bliebe, würde es einfach verschwinden.

In anderen Worten: Wenn den Bürgern nicht ordentlich Druck gemacht würde, wenn ihnen nicht sinnbildlich die Pistole an die Brust gehalten und die benötigten Mittel zur Finanzierung all dieser wunderbaren Sachen unter Gewaltandrohung abgenommen würde (was verniedlichend „Steuern“ genannt wird“), gäbe es sie schlicht und einfach nicht mehr. Niemand außer dem Staat käme auf diese Ideen und könnte die entsprechenden Mittel organisieren. Niemand. Keiner wäre so kompetent und vorausschauend wie der allwissende und alleskönnende Staat. Die Bürger wären von Natur aus zur Kooperation unfähig, weshalb man sie unterwerfen und sie zu ihrem Glück zwingen müsse. Ohne die Politiker wären die Menschen ein Nichts.

Doch was bedeutet es eigentlich, den Wohlfahrtsstaat zurückzubauen? Bedeutet es tatsächlich, dass es die entsprechenden Hilfeleistungen einfach nicht mehr gäbe, nur weil man der Politik die Kompetenz entzieht und sie in die Sphäre der Marktwirtschaft, der Zivilgesellschaft und der Eigenverantwortung zurückdelegiert? Natürlich nicht. Gerade die gesellschaftlich erwünschten Funktionen, wie eben die Hilfeleistung an Bedürftige, würden – ganz im Gegenteil – viel besser erfüllt.

Warum ist das so? Wird der Sozialstaat zurückgedrängt, bedeutet dies, dass die Zwangsabgaben für alle Produktiven sinken. Je weitergehend diese erzwungene Aneignung der Früchte der Arbeit durch die staatliche Umverteilungsbürokratie gesenkt wird, desto eher lohnt sich eine produktive Tätigkeit. Der Arbeitsanreiz steigt, weil die Entlohnung höher ausfällt. Und in einer liberalen Gesellschaft wird Arbeit dann gut entschädigt, wenn man seinen Mitmenschen nützliche Güter und Dienstleistungen anbietet. Der gesamtgesellschaftliche Wohlstand steigt.

Dies hat zur Folge, dass immer mehr Ressourcen über das Existenzminimum hinaus erwirtschaftet werden. Der Anteil der Bedürftigen sinkt also ganz natürlich – immer weiter und weiter, bis er letztlich nahezu verschwindet. Auch können dank der steigenden Lebensstandards immer mehr Ressourcen für die Hilfe an Bedürftige aufgewendet werden. Etwa, indem mehr an Hilfswerke gespendet wird.

Gerade weil es sich bei den meisten Menschen um mitfühlende und solidarische Wesen handelt, gerade weil im System wirtschaftlicher Freiheit der Wohlstand tendenziell wächst, befinden sich private Hilfswerke in den freiesten Ländern je länger, desto weniger in Geldnot. Seit vielen Jahren verzeichnen etwa Hilfswerke in der Schweiz, gemäß Index wirtschaftlicher Freiheit das wirtschaftlich drittfreieste Land der Welt, Jahr für Jahr neue Spendenrekorde. Während die Schweizer 2003 noch 1.071 Millionen Franken gespendet hatten, waren es 2021 bereits 2.051 Millionen Franken.

Es ist aber nicht nur so, dass in einem freiheitlicheren System mit geringerer Zwangsumverteilung durch einen gefräßigen Wohlfahrtsstaat mehr Ressourcen erwirtschaftet werden und damit das Hilfspotenzial erhöht wird. Ein weiterer Grund, warum den Bedürftigen in einer Marktwirtschaft und Zivilgesellschaft tendenziell besser geholfen wird, sind die inhärenten Fehlanreize der staatlichen Fürsorge.

Da bei der nichtstaatlichen Bedürftigenhilfe in vielen Fällen eine soziale Beziehung zwischen Helfern und denjenigen besteht, denen geholfen wird, kann auch besser beurteilt werden, was die Bedürftigen tatsächlich benötigen. Ist es finanzielle Unterstützung, ist es Bildung, sind es Gespräche, ist es Kinderbetreuung? So kommt man in der Regel dem Ideal der „Hilfe zur Selbsthilfe“ viel näher als durch den anonymen Umverteilungsprozess, bei dem kein persönlicher Kontakt zwischen Geber und Nehmer besteht. Vielmehr schleicht sich hier nun eine Drittinstanz, die Umverteilungsbürokratie, ein, die selbst auch Eigeninteressen verfolgt – nämlich die Maximierung ihrer Einkommen, was sich durch eine möglichst starke Ausdehnung des Wohlfahrtsstaates erreichen lässt. Sie gibt nicht das eigene Geld aus, sondern dasjenige der Steuerzahler. Doch das Geld von Fremden wird tendenziell sorgloser ausgegeben als das eigene, weshalb auch kaum darauf geachtet wird, die Kosten in den Griff zu kriegen und tatsächlich Lösungen zu erarbeiten, die für alle Seiten verträglich sind.

Wird das Zwangselement im Sozialen ausgeschaltet, verschwinden auch die Fehlanreize. Das hat den Vorteil, dass sich in einer wirklich liberalen Ordnung in einem viel größeren Umfang echte zwischenmenschliche Wärme ausbreiten kann. Dies, weil den Bedürftigen bewusst wird, wer sie unterstützt. Dadurch kann auch erst das Gefühl der Dankbarkeit entstehen, das in einem Sozialstaat aufgrund anonymer und undurchsichtiger Umverteilungsprozesse verkümmert.


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