Libertäre Philosophie – Teil 13: Abaelard nimmt die Herausforderung an
Denken statt gehorchen
von Stefan Blankertz
Unter den abendländischen Christen nahm Peter Abaelard die Herausforderung an, die in der Philosophie Avicennas (siehe Teil 11 dieser Serie) ausgedrückt ist.
Peter Abaelard (1079–1142) wurde vor allem wegen der Liebesbeziehung zu und der Heirat mit seiner Schülerin Heloise bekannt, für die ihn ihr Onkel entmannen ließ; daraufhin gingen beide, Heloise und Abaelard, ins Kloster und tauschten Weltliteratur schreibende Briefe aus. Das war die Romeo-und-Julia-Geschichte des Mittelalters.
Abaelards Beitrag zur Philosophiegeschichte ist weit bedeutender. Gegen die naive Dogmatik, die davon ausgeht, ein Wörtlichnehmen der Bibel sei ausreichender Erkenntnisgrund, stellte er schlicht eine Gegenüberstellung von widersprüchlichen Stellen aus der Bibel und aus den „Väterschriften“ zusammen: Seht her, sagte er damit, ohne Interpretation, ohne Philosophie kommt ihr zu gar keiner sinnvollen Aussage. Er entdeckte die philosophische Ethik neu. Die Anleitung zum rechten Leben erschließe sich nicht (nur) durch das Studium der Bibel, sondern (auch und vor allem) durch introspektive Gewissensforschung. Dabei gelangte er zu die Dogmatik so verstörenden Ergebnissen wie jenen, dass die Verfolger Christi keine Sünde begangen hätten, da sie in der Gewissheit gehandelt hätten, den Willen Gottes zu vollstrecken. Schließlich schrieb er den „Dialog zwischen einem Juden, einem Christen und einem Philosophen“. Der Jude vertritt eine Gesetzesreligion, das heißt, er ist verpflichtet, sich an den Buchstaben des Textes auszurichten, der eine Verhaltensanweisung gibt. Von dem Philosophen, der ein Muslim ist, lernt der Christ in diesem Gespräch die ihm ursprünglich durch den eigenen Glauben bereits in die Wiege gelegte Aufhebung des Gesetzes: Der Text ist eine Anleitung Gottes für den Menschen, nach der Wahrheit zu suchen. Abaelard sah demnach den Islam nicht als eine der Buchstabentreue des Gesetzes ausgelieferte Religion.
Die Pointe für heute liegt darin, dass „der Philosoph“ in diesem Gespräch ein Muslim ist. Er wird nicht benannt, aber zweifellos stand ihm Avicenna Pate. Die drei sprechen in einer Atmosphäre der gegenseitigen Achtung und ohne jede Schärfe miteinander. Obwohl es damit beginnt, dass der Autor im Traum von den dreien aufgefordert wird, über die Richtigkeit der Positionen zu entscheiden, endet das Gespräch offen und ohne Entscheidung. Der Philosoph allerdings gibt die Messlatte vor und der Christ muss sich nach der Decke strecken, um mithalten zu können: Der Philosoph fordert von den Predigern Vernunftgründe als zuverlässige Instrumente der Weisheit und beteuert, er würde der Autorität nicht einfach so nachgeben, sondern deren Aussprüche mit der Vernunft überprüfen, bevor er ihnen zustimmt.
Das Gespräch findet vor einem Richter (dem Ich-Erzähler) statt, der gleich zu Beginn feststellt, dass die Vertreter der beiden Religionen gegenüber dem Philosophen schlechte Karten haben. Wenn sie sich auf ihre jeweiligen Schriften beziehen, wird das den Philosophen nicht überzeugen, denn er erkennt deren Autorität nicht an. In dem Gebrauch der Vernunft sind sie jedoch nicht so geübt wie der Philosoph. Dieser verfüge über zwei Schwerter im Geisteskampf, jene der Vernunft und der Schrift. Inwiefern kann sich auch der Philosoph gegen die Vertreter der Religionen derer Schriften bedienen? Ganz einfach, indem er ihnen die Widersprüche in den Schriften um die Ohren haut. Nun denn, sagt der Richter, sie hätten sich trotzdem verabredet, wie unter Gleichen zu debattieren, und sie mögen also loslegen.
Aus den Argumenten des Philosophen möchte ich als Erstes hervorheben, dass er sagt, bei etwas, das nützlich oder ethisch richtig sei, dürfe man nicht auf den Befehl Gottes warten, es auch zu tun. Der Philosoph realisiert zugleich, er setze mit diesem Statement bereits voraus, dass das Handeln einer vernünftigen Überprüfung unterliegen solle, nicht nur dem Abgleich mit dem Gebot Gottes. Hier lässt Abaelard den Philosophen einen nachgerade genialen logischen Schachzug tun: Wenn es nicht erlaubt sei, das Tun per Vernunft zu überprüfen, könnte jemand von einem Stein oder einem Stück Holz oder sonstigem beliebigen Geschöpf behaupten, dies sei der wahre Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde. Oder er könnte einen offenkundigen Gräuel im Namen Gottes verkünden. Wenn es nicht erlaubt sei, Vernunft einzusetzen, könnte man nichts gegen ihn vorbringen. Der Gläubige steht nun vor der Entscheidung: Entweder darf er aus der Vernunft schließen, dass der Götzendiener sich im Unrecht befinde, dann muss er zugestehen, auch den eigenen Glauben an die Messlatte der Vernunft zu stellen, oder er verweigert der Vernunft das Recht zur Überprüfung von Argumenten und Taten, dann kann er auch den Götzendiener nicht kritisieren. Der Philosoph triumphiert: Wer sich verbittet, dass man seinen Glauben an der Vernunft misst, der solle gefälligst auch den Glauben eines anderen nicht mit Vernunft geißeln.
Aus der Autorität früherer Autoren oder selbst Propheten sei ebenfalls nichts ohne die Zuhilfenahme der Vernunft abzuleiten. Denn wenn es sinnvoll wäre, sich auf solch eine Autorität zu stützen, könnte man nicht erklären, warum es verschiedene Glaubensrichtungen gäbe, die auf dieselbe Autorität zurückgehen. Je nachdem, was ein jeder mit der eigenen Vernunft erwägt, entscheidet er sich also für diejenigen Autoritäten, denen er sich anschließt. Andernfalls müssten alle beliebigen Sätze aller beliebigen Schriften ohne Unterschied für wahr gehalten werden, wenn nicht die Vernunft, die ursprünglich früher ist als die einem Satz beigelegte Autorität, das Vorrecht behielte, über sie zu urteilen. Dagegen haben sich jene, die aus nichts als ihrer Vernunft heraus geschrieben haben, also die Philosophen, die Autorität, dass man ihnen unverzüglich glaubt, zwar durch ihre Würde verdient; aber auch ihnen gegenüber muss das Urteil ihrer Vernunft ihrer Autorität vorgezogen werden.
Der Jude scheidet schon schnell aus dem Dialog aus, weil er tatsächlich nichts anderes als die Autorität der Schrift vorzuweisen hat. Den Anschluss des Judentums an den durch Avicenna erneuerten Aristotelismus schaffte erst Maimonides (1138–1204), der bei Abaelards Tod erst vier Jahre alt war. Der Christ hält sich eine Weile wacker. Doch er muss zugeben, dass er den Philosophen nicht überzeugen kann, ja, es nicht einmal zu probieren vermag. Alles, zu dem er sich imstande sieht, ist, dem Philosophen darzustellen, worin der gemeinsame Glauben der Mehrheit der Christen und die Lehre ihrer Vorfahren besteht. Der Philosoph solle erkennen, woher jener Glaube stammt und dass er nicht willkürlich zum Zwecke des Dialogs erfunden wurde.
Unvollendet bricht der Dialog ab. Es besteht kein Zweifel, dass der Philosoph auf ganzer Linie überlegen ist. Der Christ hat keine Chance. Abaelard braucht den Richter gar nicht erst erneut auf den Plan zu rufen. Es ist genau das eingetreten, was dieser zu Beginn des Dialogs schon vermutet hatte. Man kann sich vorstellen, dass Abaelard als treuer Christ nicht in der Lage war, den Dialog zu Ende zu schreiben, den Kelch bis zur bitteren Neige zu leeren. Der Mut, ihn überhaupt begonnen zu haben, sucht in der Geschichte der Philosophie seinesgleichen.
Abaelard ist in einer weiteren Hinsicht bedeutsam für die Aufhebung der Bindung des Christentums an das Gesetz und an religiöse Intoleranz. Noch vor dem „Gespräch“ stellte er Zitate aus der Heiligen Schrift und weiteren grundlegenden Texten des Christentums unter dem Titel „Sic et Non“ (Ja und Nein) zusammen – Zitate, die einander teilweise fundamental widersprechen. Damit etablierte er die Notwendigkeit der philosophischen Auslegung. Reine Buchstabentreue führt immer zu Widersprüchen: Ohne Vernunft, ohne Interpretation kommt die Religion nicht aus. Aber hat sie sich erst einmal darauf eingelassen, ihre Aussagen mithilfe vernünftiger Interpretation zu prüfen, kann sie weder eine wörtliche noch eine ungeprüfte Befolgung ihrer Gebote verlangen.
In seinem nur fragmentarisch erhaltenen Spätwerk „Ethica seu Scito te ipsum“ (Ethik, oder: Erkenne dich selbst), mit dem er die Ethik als ein eigenständiges philosophisch-theologisches Gebiet wiederentdeckte, wandte Abaelard seine kritische Methode auf ein besonders heikles Thema unerschrocken an, nämlich der Frage: Haben die Verfolger der Märtyrer oder Christi überhaupt gesündigt? Denn durch das, was sie getan haben, glaubten sie, so überlegte Abaelard, Gott zu gefallen. Von dem, was sie getan haben, hätten sie umgekehrt gar nicht ohne Sünde ablassen dürfen. In der Tat könne man nicht sagen, jene hätten gesündigt. Weder Unwissenheit noch Ungläubigkeit darf „Sünde“ genannt werden. Jene, die Christus nicht kennen oder die den christlichen Glauben deshalb nicht annehmen, weil sie ihn für gotteswidrig halten, versündigen sich mit dem, was sie wegen Gott tun und worin sie meinen, Gutes zu tun, nicht gegen Gott. Wer nicht gegen sein Gewissen handelt, habt keinen Anlass zu befürchten, von Gott wegen einer Schuld unter Anklage gestellt zu werden. Niemand wird gegen die logische Abfolge dieser Gedanken etwas einwenden. Aber, fragte nun Abaelard rhetorisch geschickt: Wieso betete der Herr selber für die ihn Kreuzigenden und sagte, „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“? Denn warum müsste etwas vergeben werden, dem keine Schuld vorangegangen ist? Trotzig schloss Abaelard an, Sünde „im eigentlichen Sinne“ könne nur genannt werden kann, was die Schuld der Geringschätzung Gottes auf sich lädt. „Unglauben“, heißt es bei Abaelard wörtlich, „also den wahrhaften Glauben an Christus zu verweigern, darf meines Erachtens nicht als Schuld angerechnet werden.“ Insofern spreche Jesus hier von Schuld im „uneigentlichen Sinne“, im Sinne von „aus Unwissenheit sündigen“.
Nicht nur, dass Abaelard Unglauben ausdrücklich als keine Sünde kennzeichnete, scheint mir bemerkenswert, sondern auch die Art, in der er den Herrn für ein Wort, zumal am Kreuz in höchster Pein ausgerufen, linguistisch maßregelt: Er habe hier offenbar im uneigentlichen Sinne gesprochen.
An einem weiteren Punkt stemmte sich Abaelard der traditionellen christlichen Sündenlehre entgegen, einem Punkt, der heute nebensächlich erscheint, aber von großer Bedeutung war: Augustinus (Teil 10 der Serie) hatte die verdrehte Logik aufgestellt, nach der jeder Mensch von Geburt an persönlich für die Sünden der Stammeltern Adam und Eva verantwortlich sei und dass er, wenn er nicht durch Taufe von der Sünde befreit werde, als Sünder sterbe und in die Hölle komme. Dieser Begriff von Verantwortung sei widersinnig, sagte Abaelard. Jeder Mensch trage von Geburt an die Folgen der Sünde der Stammeltern, indem er deren beschädigte Natur erbe, sei aber nicht in einem unmittelbar persönlichen Sinne verantwortlich für sie – verantwortlich könne man nur für das sein, was man tue. Wenn Kinder ungetauft sterben, sterben sie sündenlos und kommen in den Himmel. Natürlich konnte Abaelard sich dabei auf den Herrn selber berufen, der sagte „Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solchen gehört das Himmelreich“ (Matthäus 19:14, Markus 10:14, Lukas 18:16). Genutzt hat ihm das nicht: Zweimal, nämlich 1121 sowie 1141, kurz vor seinem Tod, werden Schriften von Abaelard als ketzerisch verbrannt.
Aber ein Gedanke, einmal in die Welt gesetzt, lässt sich nicht verbieten, nicht verbannen, nicht verbrennen: In diesem Sinne haben die Herrschenden verloren. Damals, heute, für immer. Die Philosophie siegt.
Kommentare
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