Libertäre Philosophie – Teil 16: Ich bin ein Zweifelnder: René Descartes
Die Neuzeit beginnt
von Stefan Blankertz
Die Neuzeit im Allgemeinen und die neuzeitliche Philosophie im Besonderen kennzeichnete eine maßlose Arroganz gegenüber den tausend Jahren des dunklen Mittelalters, denen weder geistig noch materiell noch gesellschaftlich eine eigenständige und bemerkenswerte Position zugesprochen wurde. Die Philosophie knüpfte unmittelbar an die Antike an und erhob doch den Anspruch, etwas völlig Neues darzustellen, und hatte damit sowohl recht als auch unrecht. Unumstritten ist es der Franzose René Descartes (1596–1650), der das neuzeitliche Denken einläutete.
Seit dem Beginn der Philosophie mit Sokrates ist der Zweifel der Motor der philosophischen Erkenntnis. So auch bei Descartes. Anders als bei den mittelalterlichen Philosophen lehnte Descartes es ab, den Zusammenhalt von objektiver Welt und subjektiver menschlicher Wahrnehmung sowie gedanklich-logischer Konstruktion einem Gott zuzuschreiben, der uns schon nicht belügen würde. Gott würde, wenn überhaupt, am Ende der Argumentation als bewiesen gelten können. Seine Existenz durfte nicht vorausgesetzt werden.
Es gab zwei entscheidende Veränderungen gegenüber der antiken Fragestellung. Die erste Veränderung betraf den Fokus dessen, was die Wirklichkeit ist. Referenz für die antiken Skeptiker waren die Naturbeobachtung und die Frage, wie sicherzustellen sei, dass das, was man beobachtete, auch das war, was tatsächlich vorlag. Das Instrument der Erkenntnistheorie, im Wesentlichen die Logik, überprüfte die Beobachtung und hielt sie mit der Wirklichkeit zusammen. Für die neuzeitliche Philosophie trat an die Stelle der Naturbeobachtung die Naturbeherrschung. Die Erkenntnis der Naturgesetze machte ungeahnte Fortschritte und resultierte in einer zunehmenden Möglichkeit, die Natur zu Nutz und Frommen der Menschen manipulieren zu können. Die Erkenntnistheorie begann der Entwicklung der Naturwissenschaft und der technischen Gerätschaften hinterherzuhinken. Oder pointierter gesagt: Die praktischen Umsetzungen machten Fortschritte, unabhängig vom Stand der Erkenntnistheorie.
Die wichtigste Voraussetzung für die Naturbeherrschung war eine lückenlos zu etablierende Kette der Ursachen und Wirkungen: Kausalität ist die beherrschende Kategorie der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, ist die Voraussetzung für das Funktionieren der Mechanik. Wer Ursache und Wirkung falsch einschätzt, dem fliegt die Maschine um die Ohren. Kausalität bindet alle materiellen Körper in einen unerbittlichen Zusammenhang ein. Der Mensch ist als Lebewesen mit einem Körper ausgestattet und insofern muss er Teil dieses Zusammenhangs sein. Zugleich aber ist er derjenige, der mittels seines Geistes die Beherrschung der Natur ausübt, sie verändert, also außerhalb des Kausalzusammenhangs steht.
Dieser Widerspruch hatte sich bereits für die antiken Philosophen aufgetan mit der Voraussetzung eines von den Göttern verordneten unentrinnbaren Schicksals, während die moralische Beurteilung der Handlungen eines Menschen klarerweise voraussetzt, dass er sich entscheiden kann, dass er eine moralisch verwerfliche Handlung hätte vermeiden, dass er sich anders hätte entscheiden können. Die antiken Philosophen hatten sich freilich um diesen logischen Widerspruch niemals Gedanken gemacht. Mit Descartes trat er ins Zentrum der Philosophie.
Üblicherweise fasst man die Aussage von Descartes bezüglich der Frage nach der Subjekthaftigkeit des Menschen in der Formel „Ich denke, also bin ich“ zusammen. Diese Formel enthält jedoch mit dem „also“ einen logischen Schluss. Aber woher weiß ich, dass die Logik, der ich folge, der Wahrheit entspricht (wenn ich nicht voraussetze, dass Gott für die Identität von Wahrheit und Logik sorgt)? Descartes korrigierte seine Formel später zu der Aussage: „Ich bin ein Zweifelnder.“ Diese Aussage lässt sich nicht anzweifeln. Für deren Richtigkeit brauchen wir übrigens nicht einmal die Kategorie des Zweifels. Die Aussage „Ich bin nicht“ wäre sinnlos, denn jede Aussage bedarf eines Etwas, das die Aussage macht. Dieses Etwas kann nicht angezweifelt werden, ohne dass die Aussage unterbleiben müsste.
Nun haben wir ein unzweifelhaftes Subjekt, das außerhalb des Kausalzusammenhangs steht, und seinen Körper, der dessen Teil sein muss. Diese Dualität ist das Herzstück der Philosophie von Descartes und seitdem der Streitpunkt in der Philosophie. Denn Descartes konnte ebenso wenig wie alle folgenden neuzeitlichen Philosophen erklären, wie beides miteinander zu vereinbaren ist, ohne in einen unauflösbaren Widerspruch zu geraten. Man kann die fünfhundert Jahre Philosophiegeschichte seit Descartes als den verzweifelten und bislang gescheiterten Versuch lesen, den Widerspruch aufzulösen oder wenigstens abzumildern.
Die Philosophie ist also weder nötig, um (natur-) wissenschaftliche Erkenntnis zu befördern, noch kann sie grundlegende existenzielle Fragen zufriedenstellend lösen. Es gibt in der Geschichte der Philosophie etliche Ansätze, sie selber für eitel und tot und überflüssig zu erklären. Dennoch lebt sie fort. Sie muss ein anderes Bedürfnis befriedigen und eine andere Funktion in der Gesellschaft ausfüllen.
Die Philosophie der Neuzeit schwankt zwischen Ideologie und Widerstand, und auch dafür steht Descartes paradigmatisch. Nachdem die Reformation die Einheit der westkirchlichen Christenheit zerbrochen hatte, rückte die ideologische Gefolgschaft ins Zentrum der Machtausübung: Der Fürst brauchte eine ideologische (theologische) Rechtfertigung für seine Regentschaft und für seine Handlungen. Den Untertanen standen zumindest theoretisch jeweils Alternativen zu Gebote, deren Wahl nur entweder durch Repression oder eben durch Überzeugung zu beeinflussen war. Reine Repression war teuer und letztlich immer mit der Gefahr verbunden, dass die Untertanen, wenn sie sich verbanden und gemeinsame Sache machten, letztlich der Repression widerstehen konnten.
Soweit es die Herrschenden verstanden, sich zum Ausdruck des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts zu deuten, stützte sie die mechanistische Philosophie von Descartes. Die konservativen Gegner der naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts mussten auf andere philosophische Ansätze zurückgreifen.
Aber zugleich unterminierte die radikale Skepsis, die Descartes’ Philosophie kennzeichnete, den Herrschaftsanspruch, jeden Herrschaftsanspruch. Die Herrschaft basiert jederzeit und überall auf der Voraussetzung, dass ihre Legitimität unzweifelhaft feststeht, und dabei ist es einerlei, ob sich diese Legitimität aus Gott, der Natur, dem Humanismus, der Solidarität, der Wissenschaft oder sonst einer metaphysischen Instanz ableitet. Stets muss diese Instanz als jenseits jeder Möglichkeit dargestellt werden, sie zu hinterfragen. In diesem Sinne war Descartes die neuzeitliche Inkarnation von Sokrates: Der Stachel des kritischen, skeptischen Nachfragens reizt die Herrschenden zu tödlicher Reaktion. In einer Zeit, während der sich die Herrschaft vornehmlich theologisch rechtfertigte, war es die Infragestellung des Glaubens, das das mächtigste Instrument der Subversion darstellte.
Im Zwiespalt zwischen Dienst an der Herrschaft und ihrer Infragestellung befindet sich die Philosophie, wie ich in den vorangegangenen Teilen der Serie gezeigt habe, von Anfang an. Da das Fragen die unverzichtbare Zutat jeder philosophischen Anstrengung ist, neigt die Philosophie selbst dort zu Subversion, wo sie behauptet, nichts als die Rechtfertigung der Herrschaft zu liefern. Die Herrschenden, seien es die frühen chinesischen Kaiser, seien es die Diktatoren des 20. Jahrhunderts, behandeln darum selbst ihre ergebenen philosophischen Hofschranzen mit Herablassung oder begegnen ihnen gar mit offenem Hass. Dennoch finden sich unter den Philosophen immer wieder Liebediener und Speichellecker der Herrschenden, so sehr sie auch mit Tritten bedacht werden. Den Mut zu einem offenen Widerspruch oder gar Widerstand gegen die Herrschaft findet man unter den Philosophen leider sehr selten. Gestern wie heute. Das heißt, es ergibt sich eine Kluft zwischen objektiv subversiver Funktion der Philosophie und den konkreten körperlichen Trägern des philosophischen Denkens.
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