29. September 2024 06:00

Politische Parteien Sie sind nicht die Lösung – sie sind das Problem

Über Simone Weils “Anmerkungen zur allgemeinen Abschaffung der politischen Parteien“

von Antony P. Mueller

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Bildquelle: Mcleclat / Wikimedia Sitzung des Jakobinerclubs im Jahr 1791: Die erste totalitäre Partei

Als Simone Weil ihre „Note sur la suppression générale des partis politiques“ schrieb, war sie Zeitzeuge der Parteienherrschaft in Deutschland und der Sowjetunion. Allerdings kam der unmittelbare Antrieb durch ihre Mitarbeit in der französischen Exilgruppe in London zustande. Sie erlebte mit Entsetzen, dass selbst in einer Lage, als Frankreich teilweise fremdbesetzt war, der Parteienstreit andauerte und die Anstrengungen der Mitglieder der Gruppe „France Libre“ mehr auf parteilichen Machterwerb ausgerichtet waren als auf die Befreiung ihres Landes.

Was Simone Weil somit zum Schreiben ihres Essays motivierte, waren nicht nur die offensichtlichen Schrecken der nationalsozialistischen und sowjetischen Parteienherrschaft, sondern die Erkenntnis, dass der Totalitarismus aus dem Parteienwettbewerb selbst entsteht. Die dem Kampf der politischen Parteien innewohnende Tendenz zur Gewaltherrschaft ist nicht die Ausnahme, wie man im Hinblick auf die Sowjetunion und Nazideutschland vielleicht denken mochte, sondern liegt gleichsam in der Natur einer auf Mehrheitswahl beruhenden Parteiendemokratie.

Wie Simone Weil ausführt, stehen Parteien im Widerspruch zur Demokratie. Eine echte Demokratie erfährt ihre Legitimität nicht durch Mehrheitsentscheidungen, sondern nur insoweit, als sie der Wahrheit und der Gerechtigkeit entspricht. Simone Weil bezieht sich auf Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), der in seinem Werk zum Gesellschaftsvertrag (1762) die Grundidee zur Demokratietheorie in ihrer modernen Form ausgearbeitet hat. Rousseaus Begründung der Volksherrschaft geht vom Begriff des „allgemeinen Willens“ aus, der unbedingt der Vernunft folgt. Der grundlegende Gedanke dieser Demokratieidee ist, dass die Vernunft nur dann zur Wahrheit und Gerechtigkeit findet, wenn sie sich nicht von den Leidenschaften korrumpieren lässt. Während es eine unendliche Vielfalt von Irrtümern und Ungerechtigkeiten gibt, existieren nur eine Wahrheit und eine Gerechtigkeit, so Rousseau. Für Rousseau, wie auch später für Immanuel Kant und die anderen Denker der Aufklärung, ist die Vernunft das, was die Menschen vereint, während Leidenschaft spaltet. Die Vernunft führt zum Konsens, Leidenschaft zur Divergenz.

Zwei Bedingungen müssen erfüllt sein, um eine Demokratie zu einer legitimen Institution zu machen. Erstens muss das Volk durch den Ausdruck seines Willens von jeglicher Form kollektiver Leidenschaft frei sein. Zweitens müssen die Menschen ihren Willen zu den Problemen des öffentlichen Lebens ausdrücken und nicht etwa im Hinblick auf Einzelpersonen oder Gruppen von Einzelpersonen (Parteien). Leidenschaften verfälschen den allgemeinen Willen und machen die Demokratie zur Karikatur. Deshalb passen politische Parteien nicht in eine Demokratie. Sie wollen vor allem Macht und diese erlangen sie umso mehr, je ungehemmter die kollektiven Emotionen wüten. Politische Parteien sind die Antithese zu einer Demokratie, weil sie als Maschinerie zur Erzeugung kollektiver Leidenschaften tätig sind. Das Ziel von politischen Parteien ist nicht die Lösung öffentlicher Probleme, sondern ihr eigener Machtgewinn. Jede politische Partei neigt so ihrer Natur nach zum Totalitarismus.

Politische Parteien entstanden in Kontinentaleuropa während der Französischen Revolution von 1789.

Als erste Partei in diesem Sinn agierte der „Club des Jacobins“. Entstanden als Debattierveranstaltung, gelangten die Jakobiner im Parteienkampf um die Macht zur Herrschaft und wurden die erste totalitäre Partei. Die Jakobiner praktizierten auch als Erste den Grundsatz: „Meine Partei an der Macht und alle anderen im Gefängnis“. Die Jakobiner wurden im Verlauf der Parteienkämpfe während der Revolutionszeit zu den Trägern des Terrors, der bald die Revolution und ihre Kinder verschlingen sollte. Es ist kein Zufall, dass Totalitarismus und Schreckensherrschaft gleich zu Beginn des modernen politischen Parteiensystems auftauchen.

Politische Parteien haben in der Regel nur vage und irreale Vorstellungen zur Lösung von Gemeinschaftsproblemen. Umso lebhafter ist der ihnen eigene Machtwille. Ohne intellektuelle Inhalte streben politische Parteien unermüdlich nach Macht. Sollten sie die volle Macht im Innern eines Landes erlangt haben und dort nicht mehr genügend Gegner finden, gehen sie auf mutmaßliche äußere Feinde los. Parteien wollen weder inneren noch äußeren Frieden. Sind keine Feinde da, so schaffen sie sich welche. Die Tendenz zum Totalitarismus ist das wesentliche Merkmal einer politischen Partei. Da der Begriff des öffentlichen Interesses eine Fiktion ist, wird ihnen Streben nach totaler Macht ein absolutes Bedürfnis.

Die natürliche Affinität zwischen Totalitarismus und Verlogenheit findet ihre Heimat in der politischen Partei. Als Organisationen, die nach absoluter Macht streben, üben politische Parteiorganisationen durch Propaganda einen permanenten kollektiven Druck auf die Meinungsbildung aus. Politische Parteien sind darauf aus, den Verstand zu versklaven – ein Verfahren, das bei ihren eigenen Mitgliedern beginnt und von dort aus auf die ganze Gesellschaft übergreift.

Parteimitglieder praktizieren drei Arten von Lügen: Sie beschwindeln zuerst die Öffentlichkeit, belügen dann die eigene Partei und schließlich sich selbst. Man kann zwar als aufrichtiger Mensch in eine Partei eintreten, aber man kann in ihr nicht als ehrlicher Mensch aufsteigen. Um Karriere zu machen, muss man das Spiel mitspielen und sich der parteilichen Tretmühle unterwerfen. Bald werden die ursprünglichen Interessen und Absichten aus dem Kopf des Neulings verschwinden und das Parteiinteresse und der Erwerb von Macht werden die Oberhand gewinnen. Simone Weil schreibt: „Wenn man dem Teufel die Gestaltung des öffentlichen Lebens anvertrauen würde, könnte er kein schlaueres Mittel (als politische Parteien) erfinden.“

Simone Weil fordert ein generelles Parteienverbot. Die Abschaffung der Parteien würde eine reinigende Wirkung auch jenseits der öffentlichen Angelegenheiten haben, weil der Parteigeist die ganze Gesellschaft infiziert. Im Parteienstaat ist alles dem Parteigeist unterworfen, auch die Justiz und die Wissenschaft.

Dieser negative Einfluss politischer Parteien auf das öffentliche Leben und die Verbreitung ihrer Propaganda prägt die gesamte Mentalität unserer Zeit. Simone Weil zieht den Schluss: „Fast überall – oft auch bei rein technischen Problemen – wird, statt zu denken, nur Partei ergriffen: dafür oder dagegen. Eine solche Wahl ersetzt die Geistestätigkeit. Dies ist eine intellektuelle Lepra; sie hat ihren Ursprung in der politischen Welt und verbreitete sich dann im ganzen Land, wobei sie alle Denkweisen verunreinigte. Diese Seuche bringt uns um …“

Simone Weil kommt zu dem Schluss, dass die Institution von politischen Parteien von Übel ist. Sie fordert das Verbot aller politischen Parteien. So wie das Strafrecht die Bildung krimineller Banden unterbindet, müsste es politische Parteien verbieten, denn diese sind im wahrsten Sinne des Wortes verbrecherisch. Politische Parteien sind gefährlich und schädlich für die ganze Gesellschaft.

Der vorliegende Text ist eine Zusammenfassung auf Deutsch des Aufsatzes „Should Political Parties be Abolished“, der als Beitrag von Antony P. Mueller zu dem soeben veröffentlichten Liber Amicorum zu Ehren von Hans-Hermann Hoppe „A Life in Liberty“ (2024) erschienen ist.

„A Life in Liberty: Liber Amoricum in Honor of Hans-Hermann Hoppe“

Simone Weil: „Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien” (Deutsche Neuausgabe 2024 bei Diaphanes)

Antony P. Mueller: „Kapitalismus, Sozialismus und Anarchie. Chancen einer Gesellschaftsordnung jenseits von Staat und Politik“ (KDP 2021)


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