11. Oktober 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 19 David Hume: Die nur erträumte Wirklichkeit

Die Dekonstruktion beginnt

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: PrakichTreetasayuth / Shutterstock David Hume: An der Royal Mile steht seit 1996 eine Statue zum Gedenken an den Edinburgher Philosophen

Spätestens mit David Hume (1711–1776) tritt in der europäischen neuzeitlichen Philosophie die Spaltung zwischen kontinentalem Rationalismus (begründet durch René Descartes, Teil 16 dieser Serie) und angelsächsischem Skeptizismus zutage, wobei der Skeptizismus in allen praktischen Belangen zu einem unkritischen Pragmatismus wird. Aber der Reihe nach.

Descartes hatte nach dem soliden Fels der Erkenntnis gefragt, wenn es nicht mehr der vorgängige Glaube an Gott ist, der mit dem Vertrauen ausstattet, dass die menschlichen Instrumente der Erkenntnis (Wahrnehmung und Logik) zur Wirklichkeitserfassung taugen. Hume erklärte nun jeden Glauben daran, dass das, was wir wahrnehmen, irgendeiner äußeren Wirklichkeit entspreche, für bloßen Aberglauben. Das andere Instrument der Erkenntnis, die Logik, kommt bei Hume nicht besser weg. Allem voran die Kausalität ist für ihn nichts weiter als ein lächerlicher Versuch, Zusammenhänge herzustellen, die es nicht gibt. Alles, was wir feststellen können, ist, wie sich Ereignisse zeitlich und räumlich zueinander verhalten.

Hume war sich im Klaren darüber, dass dieser Standpunkt des radikalen Skeptizismus höchst unpraktisch und wenig alltagstauglich ist. Was hatte er anzubieten? An die Stelle der illusorisch sicheren Grundlage der Wirklichkeitserfassung setzte Hume die Gewohnheit und die Konvention. Die Wirklichkeit ist das, was wir darunter verstehen, und wir handeln in ihr nach den Abmachungen, die wir treffen. Die meisten Abmachungen sind in der Vergangenheit getroffen worden und wir befolgen sie aus Gewohnheit. Auf diese Weise wird der Skeptizismus, der zunächst so umstürzlerisch klingt, zu einem konservativen Glaubensbekenntnis.

Humes Philosophie wirkt bis heute, meist indirekt, und zwar sowohl heilsam als auch unheilvoll. (Das Verb „wirken“ übrigens setzt Kausalität voraus und widerspricht damit dem Hume’schen Skeptizismus; und das gibt, wie wir gleich sehen werden, einen spannenden Einwand ab.) Die heute gängige Philosophie des Konstruktivismus ist im Grunde genommen nichts anderes als eine verfeinerte Reformulierung von Hume – oder eine Vergröberung, je nach Sichtweise. Wenn die Wirklichkeit nichts objektiv Gegebenes ist, sondern auf Gewohnheit und Konvention beruht, ist sie auch änderbar. Gegenüber Philosophien, die mit einem Begriff statischer Wahrheit operieren und im Bereich der politischen Verfassung eine ein für alle Male feststehende und ewig gültige Legitimation einer bestimmten Herrschaftsstruktur behaupten, verschafft diese Ansicht einen großen Freiraum.

Allerdings beschwört die konstruktivistische Konstruktion der Wirklichkeit auch eine Gefahr herauf. Sobald diese Philosophie nicht mehr ein Instrument der Unterdrückten ist, mit dem sie die Rechtfertigung der herrschenden Verhältnisse erschüttern, sondern in die Hände der Herrschenden übergeht, droht die Katastrophe: Das Handeln der Herrschenden wird dann nicht mehr von der Wirklichkeit ausbalanciert, sodass ihr Gestaltungsanspruch nicht mehr am „Machbaren“ seine Grenze findet, also dort, wo die Wirklichkeit einschreitet. Das entgrenzt den Anspruch der Herrschenden, die Wirklichkeit nach ihrem Gutdünken zu formen. Und schlimmer noch: Die unheilvollen Wirkungen der Handlungen der Herrschenden können dann gar nicht mehr diesen Handlungen angelastet werden. Die Herrschenden behaupten schlicht, dass nicht ihre Handlungen unheilvoll wirkten, sondern die bösen Absichten der Unterdrückten, die sich nicht gehorsam in ihre segensreiche Struktur einfügen, würden dafür verantwortlich sein.

Obwohl die Herrschenden zunehmend den Konstruktivismus (Skeptizismus) in Anspruch nehmen, um die Analyse, ihre Handlungen hätten fatale Folgen für Menschheit und Erde, zu dekonstruieren (oder, anders gesagt: um die Möglichkeit dieser Analyse zu leugnen), entkommen sie der Voraussetzung nicht, dass es Kausalität gibt. Denn sie leugnen zwar die eigene Verantwortlichkeit für Konsequenzen ihres Handelns, behaupten aber im gleichen Atemzug, dass es die Widerspenstigen, die Ungehorsamen unter den Unterdrückten seien, die eventuelle Desaster verursacht haben. Das heißt, sie setzen voraus, dass Handlungen Konsequenzen haben können.

In diesem Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung werden Konstruktivismus und Dekonstruktion zur Ideologie, zur Verschleierung von Herrschaft. Spätestens ab der Russischen Oktoberrevolution nehmen die Herrschenden aller politischen Lager für sich in Anspruch, dass sie ungestraft gegen ökonomische Gesetzmäßigkeiten verstoßen können. Die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten seien bloße Konstruktionen ihrer Gegner, die man als Ausdruck von deren Interesse dekonstruieren müsse. Wenn es dann zu negativen (zumindest vorgeblich ungewollten oder nicht angekündigten) Entwicklungen kommt, macht man umgehend diejenigen haftbar, die sich der Mitarbeit verweigerten. Die Strategie, Außenseiter als Sündenböcke zu benennen, ist derzeit so gängig, dass die Akteure ungläubig mit dem Kopf schütteln, wenn man sie darauf aufmerksam macht.

Ist Hume für diese Entwicklung verantwortlich? Wir haben die Frage der Verantwortlichkeit der Philosophen bereits bei Augustinus (Teil 10 dieser Serie) gestreift. Ist Augustinus dafür verantwortlich, dass das Christentum zu Rechtfertigung brutaler Herrschaft herangezogen werden konnte? Hätte er sich anders entscheiden können? Sicherlich hätte er das. Aber hätte dies die Weltgeschichte in eine andere Richtung gelenkt? Vielleicht ja, vielleicht nein. Die Frage der Verantwortlichkeit wird in der neuzeitlichen Philosophie immer drängender. Sind die „Meisterdenker“ verantwortlich für das, was die Herrschenden aus ihren Gedanken machen? Einerseits ist die intellektuelle Dummheit der Herrschenden (die im umgekehrten Verhältnis zu ihrer instrumentellen Klugheit steht, sonst wären sie nicht mehr an der Macht) unbegrenzt, und oft ziehen sie sinnwidrig solche Philosophen zu ihrer Rechtfertigung heran, dass einem die Haare zu Berge stehen. Andererseits möchte man die Philosophen auch nicht ganz aus der Verantwortung entlassen, wenn es um die Urkatastrophen der Neuzeit geht, Kolonialismus, Kommunismus und Faschismus.

Die eigene Philosophie so zu formulieren, dass sie sich gerade nicht zur Konstitution von Herrschaft eignet, wird zunehmend zur moralischen Verpflichtung von Philosophen. Hume konnte das, wie ihm zugutezuhalten ist, natürlich noch nicht wissen. Auch ist die von mir hier gekennzeichnete Wirkungsgeschichte seiner Philosophie nur ein Strang. Ein anderer Strang führt zu einer vorsichtig-pragmatischen, konservativ-liberalen Politik, die Herrschaft zwar nicht negiert, aber minimiert. Für welchen Strang ist er verantwortlich? Welcher Strang entspricht seinem Denken?

Die Philosophen sind nicht die geheimen Herrscher der Welt, zu denen sie sich manchmal gern selbst stilisieren, wenn sie Platon (Teil 3 dieser Serie) allzu ernst nehmen. Oft sind sie Ausdruck des Zeitgeistes und der gesellschaftlichen Strömungen. Doch haben sie auch eine Wirkung, sie beeinflussen die Entwicklung in der Gesellschaft, und für diesen begrenzten Einfluss sind sie verantwortlich. Gerade die, die in den Urkatastrophen der Neuzeit eine federführende Rolle spielten und herrisch behaupteten, die vermeintlich gute Sache voranzubringen, zogen sich, wenn sich die gute Sache als blutiger Spuk herausstellte, darauf zurück, eigentlich gar keine Wirkung gehabt und schon gar nicht gewollt zu haben: Sie waren nur Beobachter von Ereignissen, denen sie neutral oder nachträglich sogar kritisch gegenübergestanden hatten. Dies ist eine armselige Position.


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