07. November 2024 06:00

Gerechtigkeit Sind Gesetzesbrecher böse Menschen?

Staatliche Verordnungen sind oft ungerecht

von Olivier Kessler

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Bildquelle: tynyuk / Shutterstock Gute und Böse: Im wirklichen Leben ist die Unterscheidung nicht immer so leicht

Wer korrupt ist oder das Gesetz bricht, ist ein Verbrecher. Und die Verbrecher sind die Bösen. Das wissen wir schon von klein auf von all den Märchen, die uns unsere Eltern vorgelesen haben und all den Hollywood-Filmen, die wir uns angeschaut haben: Da gibt es meist eine klare Unterscheidung zwischen den Guten auf der einen und den Bösen auf der anderen Seite. Es hat sich in unseren Köpfen folglich eine Vorstellung von „Gerechtigkeit“ verstetigt, die von einem klaren Schwarz-Weiß-Denken geprägt ist: Die Gesetzesbrecher und Korrupten sind die Bösen, die Gesetzestreuen die Guten.

Doch die Angelegenheit ist manchmal etwas komplizierter. Wer die Sache so vereinfacht sieht, wie oben dargestellt, der geht von der Richtigkeit der folgenden Gleichung aus: Alles, was der Staat beschließt und in Gesetze und Verordnungen hineingießt, muss notwendigerweise wichtig, richtig und gerecht sein. Doch was ist mit dem deutschen Beamten, der unter dem Regime der Nationalsozialisten schön brav alle Gesetze befolgt und die staatlichen Enteignungs- und Erschießungsbefehle ohne zu hinterfragen umgesetzt hatte? Gemäß obiger Logik stünde dieser Beamte auf der Seite des Guten. „Vergesst niemals, dass alles, was Hitler in Deutschland getan hat, legal war“ (Martin Luther King Junior). Auf der anderen Seite wäre dann jeder, der solche unmenschlichen Anordnungen missachtete und stattdessen auf sein Gewissen hörte, ein Bösewicht.

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Gesetzestreue immer vor dem Hintergrund der geltenden Rechtsordnung beurteilt werden muss und nicht per se gut oder schlecht ist. Wenn jemand als „kriminell“ oder „korrupt“ bezeichnet wird, müssen wir deshalb immer genau prüfen, ob die staatlichen Befehle, die gebrochen wurden, gut und gerecht waren. Wenn ja, dann sind diese Bezeichnungen gerechtfertigt. Andernfalls würde es sich bei der Gesetzesuntreue ja eventuell sogar um einen Akt der Menschenfreundlichkeit und der Güte handeln. Man müsste dann analysieren, mit welchem Motiv solche Bezeichnungen dennoch verwendet werden. Ein möglicher Grund besteht darin, unliebsame Befehlsverweigerer aus reinem Machtinteresse zu diskreditieren.

In liberalen Rechtsstaaten, in denen sich staatliches Handeln alleine auf den Schutz von individuellen Abwehrrechten beschränkt, trägt Gesetzesuntreue tatsächlich dazu bei, dass die Ungerechtigkeit ausgeweitet wird. Wenn hier jemand einen anderen bestiehlt oder körperlich angreift, so kann man wohl in den allermeisten Fällen mit Fug und Recht behaupten, dass es sich um ein Verbrechen handelt (vor allem dann, wenn die Gewalt von der entsprechenden Person initiiert wird). Denn er fügt anderen einen Schaden zu, ohne dass sie ihm zuvor einen Schaden zugefügt haben.

In illiberalen Unrechtsregimen jedoch kann man nicht partout davon ausgehen, dass jene, die die Gesetze brechen oder korrupt sind, automatisch auch böse Menschen sind. Ganz im Gegenteil. Ein illiberales Unrechtsregime definiert sich ja gerade dadurch, dass es ungerechte Gesetze durchsetzt, die bestimmten oder allen Menschen schaden. Solche Gesetze könnten etwa die Vergabe von Lizenzen sein: Der Staat verteilt ausgewählten Menschen eine Genehmigung, einer bestimmten Aktivität nachzugehen, während er dies anderen verbietet. Ein Beispiel wäre das Ausüben einer ärztlichen Tätigkeit: Der Arzt muss sich an die staatlichen Vorgaben halten, damit er weiterhin seinen Job ausüben darf. Findet er die staatlichen Anordnungen nicht sinnvoll (zum Beispiel die Vorschrift, dass in jeder Arztpraxis nun ein Maskenzwang zu gelten hat oder er bestimmte Impfungen empfehlen muss) und hält sich nicht daran, so kann ihm die Lizenz wieder entzogen werden. Er kann sogar eingesperrt werden, wenn er seine Leistungen weiterhin anbietet, die von anderen freiwillig zu diesen Konditionen nachgefragt werden. Kann man nun tatsächlich behaupten, Ärzte, die diese Lizenzgesetze missachten und trotzdem Leistungen anbieten, seien böse? Sie tun doch niemandem etwas zuleide? Ganz im Gegenteil: Sie dienen jenen Kunden, die unter den genannten Konditionen freiwillig zu diesem Arzt gehen möchten. Es handelt sich also um ein Win-win-Verhältnis.

In einem illiberalen Unrechtsregime befand sich praktisch die ganze Welt – also nicht nur die sogenannten Schurkenstaaten – während des Corona-Wahnsinns. Und hier trat eine überraschende Erkenntnis zutage: Gerade in jenen Staaten, die auch in „normalen Zeiten“ alles andere als liberale Rechtsstaaten sind und in denen Korruption weitverbreitet ist, herrschten oftmals größere individuelle Freiheiten vor als in sogenannten „liberaleren“ Ländern, die ebenfalls auf Lockdowns, Maskenzwang und Zertifikate gesetzt haben. Zwar galt auch in diesen Ländern „offiziell“ ein Masken- und Zertifikatszwang. Doch diese Gesetze wurden vielerorts umgangen oder ignoriert: Zertifikate wurden von korrupten Behörden ausgestellt, ohne dass die entsprechenden Personen tatsächlich geimpft wurden. Und wenn jemand zum Beispiel in einem Restaurant kein Zertifikat vorweisen konnte, so wurde ihm trotzdem Einlass geboten, nachdem man irgendeinen QR-Code auf seinem Smartphone präsentieren konnte. Schilder in öffentlichen Gebäuden wiesen prominent auf den geltenden Maskenzwang hin. Doch oft hielten sich nicht einmal die Behörden selbst an diese als widersinnig erachteten Gesetze, arbeiteten selbst ohne Masken und ignorierten zivile Maskenverweigerer demonstrativ.

Ganz anders in den vermeintlich liberalen Rechtsstaaten, die während der Corona-Zeit zu tyrannischen Kontroll-, Überwachungs- und Verbotsstaaten mutierten: Hier wurden die Gesetze meist knallhart durchgesetzt – von den staatlichen Behörden gleichermaßen wie von den eingeschüchterten Privaten, die zum Beispiel den Zertifikatszwang haben überwachen müssen. Warum? In diesen Ländern war aus vernünftigen Gründen eine Kultur der Rechtstreue vorherrschend, weil sich diese Verhaltensnormen in der Vergangenheit als vorteilhaft herausgestellt haben. Man war in diesen Ländern daran gewöhnt, Gesetze brav zu befolgen. Die Angst vor Gesetzesübertritten und den entsprechenden Konsequenzen waren groß. Man war dies schlicht nicht gewohnt, während die Nichtbeachtung von Vorschriften in anderen Ländern zum Alltag gehörte.

Die Abwesenheit von Korruption und die Gesetzestreue sind in „normalen Zeiten“ auch sehr hilfreich, gerade zum Beispiel hinsichtlich der Unternehmensinvestitionen, des internationalen Handels, des Verbleibs von Hochqualifizierten und der Robustheit öffentlicher Haushalte. Je weiter Korruption verbreitet ist, desto weniger haben Menschen einen Anreiz, Ressourcen und Zeit einzusetzen, um Neues entstehen zu lassen, zu investieren oder sich fortzubilden. Produktiv zu sein lohnt sich weniger, wenn korrupte Staatsdiener einen wesentlichen Teil der Früchte der Arbeit abknapsen. Im Gegenzug haben Menschen einen stärkeren Anreiz, Ressourcen und Zeit auf Aktivitäten zu verwenden, die als unproduktiv zu bezeichnen sind, da sie dem Zweck dienen, von korrupten Strukturen profitieren zu können. Dies muss jedoch in Ausnahme- und Krisensituationen nicht unbedingt gelten. Hier eröffnen Gesetzesuntreue und Korruption unter Umständen sogar mehr Freiheitsräume – gerade für jene, die durch den geltenden Gesetzesapparat unterdrückt, ausgebeutet und benachteiligt werden. Es erlaubt, dass die Menschlichkeit in der Wüste des kollektiven Wahns doch noch hie und da aufblühen kann.

Noch ein ketzerischer Gedanke zum Schluss: Auch wenn demokratische Staaten gerne als weniger korrupt dargestellt werden als „Schurkenstaaten“, so kann man sich mit Fug und Recht die Frage stellen, ob nicht die Demokratie auch ein höchst korruptes System ist: Schließlich geben hier Politiker Versprechen ab, welche Vorteile sie ihrer Klientel verschaffen würden, wenn diese ihnen nur ihre Stimme gibt. Staatliche Sonderprivilegien gegen Wählerstimmen, die dem Politiker einen gut bezahlten Job sichern. Ist das nicht auch eine Form der Korruption?


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