08. November 2024 06:00

Libertäre Philosophie – Teil 23 Hegel: Dynamisierung des Denkens

Das Geheimnis der Dialektik

von Stefan Blankertz

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Bildquelle: Store Norske Leksikon „Willst du leben, musst du dienen: Willst du frei sein, musst du sterben“ (Hegel)

Egal, welchen Wahrheitsbegriff oder welche Erkenntnistheorie die Philosophen bis Hegel formulierten, es handelte sich immer darum, etwas festzustellen, das ein für alle Mal gültig ist. Tatsächlich gab es Entwicklungen, aber sie wurden durchgängig bedauert als Unvollkommenheit. Wir sahen aber, dass die Philosophen, indem sie sich aufeinander bezogen, Gedankenlinien fortführten oder verwarfen. Außerdem sahen wir, dass die Philosophie immer in einem engen Bezug zu den gesellschaftlichen, technischen und politischen Gegebenheiten zu der Zeit standen, in der sie formuliert wurde. Ist das wirklich so oder stelle ich es so dar, weil ich von Hegel beeinflusst bin?

Georg Wilhelm Friedrich (kurz: G. W. F.) Hegel (1770–1831) ist der vielleicht einzige Philosoph, der die Logik von Aristoteles nicht nur verfeinerte, sondern ergänzte. (Es ist wichtig zu sagen, dass er sie ergänzte: Er wollte sie nicht negieren). Und das ist die Dialektik. Für die Neuzeit gilt, dass sie Entwicklung nicht mehr als Unvollkommenheit, sondern als willkommene Möglichkeit betrachtete, Mängel in der Wirklichkeit zu korrigieren. Um das Denken für die Entwicklung empfänglich zu machen, müssen wir es laut Hegel dynamisieren: Alles Denken ist ein Ausdruck seiner Zeit.

Genau wie die naturwissenschaftliche und die ökonomische Erkenntnistheorie nach den Gesetzmäßigkeiten der Natur beziehungsweise des Handelns fragte, so fragte Hegel nach der Gesetzmäßigkeit in der Dynamik des Denkens im Laufe der gesellschaftlich-technischen Entwicklung und bezeichnete diese Gesetzmäßigkeit als Dialektik, denn diese Dynamik ist nicht beliebig oder zufällig. Hegels Formeln für die dialektische Gesetzmäßigkeit der Dynamik lauteten: das dialektische Umschlagen (oder Übergehen) von einer Kategorie (zum Beispiel Quantität) in eine andere Kategorie (zum Beispiel Qualität) sowie der Dreischritt einer Entwicklung These – Antithese – Synthese.

Wie so viele scheinbar säkulare Konzeptionen der neuzeitlichen oder aufklärerischen Philosophie hat auch die Hegel’sche Dialektik ein theologisches Vorbild, die christliche Heilsgeschichte, die durch die Fleischwerdung Gottes in Jesus (These) über die Herrschaft des Antichristen (Antithese) ins Himmlische Jerusalem (Synthese) führt.

Einmal darauf aufmerksam gemacht, ist es leicht, Dialektik überall am Werk zu sehen. Ein Beispiel von Hegel selber ist: Man erhitzt einen Wassertropfen und er wird immer wärmer. Die Zunahme an Wärme ist rein quantitativer Art, bis sie den Punkt erreicht, an dem das Wasser sich in Dampf verwandelt, also eine andere Qualität annimmt.

Das bekannteste Beispiel Hegels für dialektische Logik, das auch zeigt, dass es dabei vor allem um eine soziale und politische Theorie handelt, ist die Dialektik von Herr und Knecht. Der Herr bestimmt über den Knecht. Aber indem der Knecht die Arbeit für den Herrn verrichtet, wird er einerseits zum Könner (während sich die Fähigkeiten des Herrn nicht entwickeln) und andererseits gerät der Herr immer mehr in die Abhängigkeit des Knechts, weil er sich ohne die Arbeit des Knechts nicht mehr reproduzieren kann.

Kein Zweifel, Hegels Philosophie ist zutiefst politisch. Und was das betrifft, war er der Staatsphilosoph schlechthin: Der Staat als höchster Ausdruck von Sittlichkeit und Freiheit, das ist Musik in den Ohren der Herrschenden. Aber nur oberflächlich betrachtet. Schaut man genauer in seine Rechtsphilosophie, wie er sie in Vorlesungen zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) entfaltete, zeigt sich schnell ein anderes Bild. Hegels Anspruch klingt zunächst tatsächlich rein konservativ-bewahrend. Gleich zu Beginn stellt er klar, dass es nicht darum gehen könne, das zu statuieren, was sein solle, sondern zu beschreiben, was ist. Hinter dem, was ist, stecke, so die Voraussetzung von Hegels System, die Vernunft; nur darum lässt sich das Bestehende mittels der Vernunft erkennen und erklären. Ebenfalls zu Beginn der Rechtsphilosophie äußert Hegel das verstörende Paradox, das Vernünftige sei wirklich und das Wirkliche sei vernünftig. Heißt dies etwa, das Wirkliche sei unveränderlich? Gerade so sah es Hegel aber nicht: Die Wirklichkeit ist das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses, des berühmt-berüchtigten „Weltgeistes“. Im geschichtlichen Prozess findet die Menschheit zunehmend zum Bewusstsein ihrer selbst und das heißt nichts anderes als zum Bewusstsein ihrer Freiheit – ihrer Freiheit, die Geschicke in die eigene Hand zu nehmen. An der jeweiligen staatlichen Verfasstheit einer Gesellschaft lässt sich der Grad ablesen, bis zu dem die Menschheit ihre Freiheit realisiert. Beim Lesen gegen den Strich ist damit weder über die Unveränderlichkeit noch über die Unverzichtbarkeit des Staats ein Wort verloren.

In diesem Zusammenhang wendet Hegel sich gegen zwei Strategien zur Legitimation des Staats, nämlich die liberale (revolutionäre) Vertragstheorie und die konservative Volkstheorie. Der Vertragstheoretiker, den Hegel stellvertretend für diesen Typus der Theorie attackiert, ist Jean-Jacques Rousseau (Teil 20 dieser Serie). In Wirklichkeit, so hält Hegel der Vertragstheorie entgegen, fand niemals eine ursprüngliche Versammlung von vorstaatlich organisierten Menschen statt, die den formellen Beschluss fassten, einen Pakt oder Vertrag zu schließen. Mit etwas Phantasie könnte man die Amerikanische Revolution (und hier besonders die Unabhängigkeitserklärung 1776) als einen solchen Gesellschaftsvertrag interpretieren; aber interessanterweise spielte die Amerikanische Revolution, die der Französischen vorausging, im europäischen Denken nie eine Rolle und spielt es bis heute nicht. Wie dem auch sei, auch die Amerikanische Revolution fand in einem Umfeld statt, in dem es bereits Staaten gab, die Kolonialmächte England, Frankreich und Spanien. Hegel ätzt, dass das, was niemals stattgefunden habe (nämlich ein Vertragsabschluss unter nicht-staatlich organisierten Menschen), schwerlich dazu herhalten könne, irgendetwas zu rechtfertigen.

Aber auch die konservative Variante, nach der die legitime staatliche Herrschaft aus dem Leben des Volks organisch hervorgehe, prangert Hegel als geistlos an. Die Theorie der organischen Staatsverfassung lässt aus, dass der Staat Planung und Willen enthält, dass er einer Idee folgt und dass dabei in den meisten historischen Situationen das Volk herzlich wenig zum Vorschein kommt. Stattdessen herrscht blanke Gewalt, kein organischer Volksgeist.

Beiden Theorien wirft Hegel vor, dass sie für den Staat einen Zweck setzen: die Vertragstheorie den Zweck der Sicherung von Eigentum und Freiheit, die organische Theorie den Zweck der Sicherung und Förderung des Volkslebens. Und ab dieser Stelle in Hegels Argumentation hören die Herrschenden lieber weg. Denn nach Hegel ist es abwegig, von einem Zweck des Staats zu sprechen. Der Staat soll das Leben der Bürger schützen? Oftmals setzt er das Leben der Bürger aufs Spiel und fordert, dass sie es geben, so in einem Krieg. Der Staat soll das Eigentum der Bürger schützen? Er fordert, dass die Bürger ihm von ihrem Eigentum abgeben; er behält sich vor, es zu beschneiden und zu konfiszieren. Der Staat soll die Freiheit der Bürger schützen? Lächerlich, er ist eine Instanz, der sie ihnen oft genug nimmt.

Einen Zweck zu haben, sagt Hegel, ist Sache eines bürgerlichen Vereins, der auflösbar ist, wenn die Mitglieder finden, dass der Verein den Zweck nicht mehr erfüllt oder wenn sie ihre Meinung darüber, welchen Zweck sie verfolgen wollen, geändert haben. Bereits das Inhaltsverzeichnis der Hegel’schen Rechtsphilosophie offenbart hier eine Sensation: Die Zwecke der Menschen, mit denen sie ihr gesellschaftliches Leben organisieren, von der Familie über den Schutz des Eigentums bis hin zur Polizei, sind allesamt vorstaatlich. Noch einmal, weil es so unglaublich klingt: Hegel sagt, Familie, Eigentum und Polizei seien vorstaatliche gesellschaftliche Instanzen. Den Staat handelt Hegel erst ab, nachdem er alle Zwecke (oder Funktionen) des gesellschaftlichen Lebens Punkt für Punkt dargelegt hat. Hegels Begriff des Vereins wurde zum zentralen Gedanken des Junghegelianers Max Stirner (Teil 25 dieser Serie), dem Begründer des Individualanarchismus (obgleich Stirner selber sich nicht als Anarchist bezeichnete).

Wenn der Staat keinen Zweck hat, was ist er dann? Eine vielleicht unscheinbare und harmlos klingende Formulierung, die ich gleich am Anfang gebrauchte, ist der Schlüssel zum Verständnis: Der Staat ist Ausdruck des jeweils historisch erreichten Grades an Sittlichkeit und Freiheit. Wie konsequent Hegel diesen Gedanken verfolgt, lässt sich an einer Notiz zur Rechtsphilosophie ermessen, die neuerdings herangezogen wird, um Hegel vorzuwerfen, er habe die Sklaverei in den USA gerechtfertigt. Die Sklaverei in den USA falle in eine Welt, notiert Hegel, „wo noch ein Unrecht Recht ist“. Wer dies als Rechtfertigung liest, hat Hegel nicht verstanden. Zweifellos war die Sklaverei in den USA zu jener Zeit (1821) ein Recht in dem Sinne, dass die amerikanische staatlich verfasste Gesellschaft den Besitz von Menschen zu einem Recht erklärte. Hegels Auffassung zufolge war die Sklaverei als Idee jedoch schon überwunden; insofern stellte sie das Relikt eines Rechtsverständnisses dar, das inzwischen zum Unrecht geworden war.

In diesem Sinne ist Hegels Rechts- oder Staatsphilosophie eine Theorie der Veränderungsprozesse gesellschaftlicher Verhältnisse und kein System von Sollensätzen, keine Vorschrift darüber, wie der Staat (oder wie die Gesellschaft) einzurichten sei. Obgleich es feststeht, dass Hegel nicht über die Möglichkeit nachdachte, ob es eine geschichtliche Situation geben wird, in der die Gesellschaft keinen Staat mehr als Ausdruck ihrer Freiheit braucht, lässt sich dieser Gedanke im Rahmen der Hegel’schen Philosophie nicht ausschließen. Nicht nur das: Ein solcher Gedanke liegt geradezu nahe, gerade weil der Staat keine gesellschaftlich notwendige Funktion ausübt (keinen Zweck hat). Die Gesellschaft kann sich, wenn sie zum vollen Bewusstsein ihrer Freiheit findet, ohne Staat organisieren: über die Instanzen der (freiwilligen) Vereine.


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