20. Juni 2025 06:00

Krieg und Frieden – Teil 18 Warum Krieg?

Albert Einstein und Sigmund Freud im Dialog

von Stefan Blankertz drucken

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Bildquelle: Shutterstock AI Thema von Einsteins und Freuds Briefwechsel im Jahr 1932: „Warum Krieg?“:

Sigmund Freud (1856–1939) hatte die Lehre entwickelt, dass alles menschliche Tun vor allem darauf gerichtet sei, die biologischen Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen; die Energie, die der Körper zur Erfüllung der Bedürfnisse bereitstellt, nannte er Libido. Heute ziemlich selbstverständlich, kann man kaum noch nachvollziehen, welcher Skandal diese Lehre Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts darstellte: Was – der Mensch ist von seinem Naturwesen bestimmt, nicht von der hehren interessen- und lustfreien Vernunft? Unvorstellbar! Herabwürdigung des Menschen auf das Niveau der bloßen Bestie!

Nach dem entsetzlichen Ersten Weltkrieg und den ersten Gräuel infolge der russischen Oktoberrevolution verzweifelte Freud an seiner eigenen Lehre. Er schrieb „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) und ergänzte sie: Im tiefsten Inneren werde der Mensch nicht von der lebenserhaltenden und -bejahenden Libido-Energie gesteuert, sondern von einem Todestrieb, der allem Leben letztlich zugrunde liege. Alles Leben, angefangen vom Einzeller bis hin zum Menschen, strebe zurück zum unbelebten Zustand einer leidensfreien Ewigkeit.

Zehn Jahre später hatte Freud sich psychisch so weit stabilisiert, dass er der Frage nachgehen konnte, wie angesichts der offenbar nicht zu zügelnden Zerstörungswut eine lebenserhaltende Zukunft der Menschheit gestaltet werden könne. In „Das Unbehagen in der Kultur“, seiner wichtigsten Schrift überhaupt, entwickelte Freud 1930 folgende These: Das gesellschaftliche Zusammenleben fordert von jedem einzelnen Mitglied der Gesellschaft ein gehöriges Maß an Triebverzicht. Die zwei grundlegenden Triebe, die Freud namhaft machte, sind Sexualität und Aggression. Es ist bedeutsam, diesen Zweiklang hervorzuheben, denn er widerspricht der Legende, Freud habe ausschließlich Sexualität als grundlegenden menschlichen Trieb angesehen.

Je zentraler, organisierter und sicherer die Gesellschaft werde, sagte Freud in „Das Unbehagen in der Kultur“, um so mehr lege sie die individuellen Bedürfnisse in Ketten. Sicherheit ist einerseits ein primäres soziales Bedürfnis auch des Individuums, denn ohne Sicherheit wäre die Befriedigung der übrigen Bedürfnisse unmöglich, andererseits ist Sicherheit ein psychologisch sekundäres Bedürfnis, ein Hilfsmittel. Weil die Gewährleistung von Sicherheit der Befriedigung der primären individuellen Bedürfnisse in die Quere kommt, entsteht ein Paradoxon, das Unbehagen in der Kultur. Und dieses Unbehagen in der Kultur ist es, das sich in Gewaltausbrüchen Bahn bricht, sei es in Form individueller Taten oder eines kollektiven Kriegs.

Für Freud gibt es aus diesem Paradoxon keinen einfachen und möglicherweise gar keinen dauerhaften Ausweg. Alles, wozu Freud aufruft, ist, eine etwas lebenswertere Balance zwischen gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnissen herzustellen. Die Zukunft der Menschheit hänge daran, so Freud, ob es gelinge, der aggressiven Impulse Herr zu werden. Und dies kann nur gelingen, wenn die Einzelnen in der Gesellschaft nicht durch bohrendes Unbehagen gehen müssen. Ja, Freud gesteht einem nicht genannten Kritiker zu, man könne zu dem Schluss gelangen, die ganze Kultur in die Tonne treten zu wollen, wenn sie der Lebendigkeit solch enge Fesseln anlege. Meiner Auffassung nach verweist er hier auf Wilhelm Reich. Wilhelm Reich (1897–1957) war der in Ungnade gefallene Meisterschüler Freuds, der ganz die Partei der biologischen Bedürfnisse (des sogenannten Es in der Freud’schen Terminologie) ergriffen hatte. Sie seien, wenn sie nicht gesellschaftlich unterdrückt würden, sehr wohl in der Lage, ein harmonisches gesellschaftliches Leben zu ermöglichen (mehr zu Wilhelm Reich in Teil 20 dieser Serie). Freud teilte Reichs biologischen Optimismus nicht, weil er, wie gesagt, überzeugt war, dass jede Gesellschaft ein gewisses Maß an Triebverzicht fordere. Dennoch würde es auch Freud zufolge eine Selbstzerstörung der Gesellschaft nach sich ziehen, wenn die Gesellschaft dem Individuum nicht ein Mehr an Lebensfreude zugestehe. Die Entfesselung der Aggressionsneigung, die die gesellschaftliche Forderung nach Triebverzicht letztlich auslöst, wird umso bedrohlicher, je stärker die technischen Vernichtungsmittel zunehmen und das Potenzial bergen, die Menschheit tatsächlich auszulöschen.

Kurz nach dem Erscheinen von „Das Unbehagen in der Kultur“ erreichte Freud ein Brief des Physikers Albert Einstein (1879–1955), in dem Einstein Freud die schlichte Frage vorlegte: Warum Krieg? In der Antwort fasste Freud seine Überlegungen aus „Jenseits des Lustprinzips“ und „Das Unbehagen in der Kultur“ zusammen und entschuldigte sich bei Einstein, dass er, während der Fragesteller praktische Lösungen erwartet, um den Krieg zu verhindern, nur ein vages theoretisches Einerseits-Andererseits anbietet. Aber natürlich ist ein solches zweifelndes Abwägen genau der wertvolle Beitrag, den Freud zur Frage beisteuern kann. Gäbe es einfache und schnelle Lösungen, dann würde das Problem ja gar nicht bestehen.

Bedeutsam ist vor allem, dass weder Einstein noch Freud auch nur ein Wort über diejenigen Aspekte der Kriegsfrage verlieren, die üblich sind: Geopolitik, Machtgelüst, wirtschaftliche Habgier. Bei Einstein und Freud standen nicht die Interessen der Herrschenden im Fokus, die diese dazu veranlassen, Krieg führen zu wollen. Denn sie vermögen Krieg nur dann zu führen, wenn die Menschen mitmachen. Bertolt Brecht wird in seinem berühmten Gedicht „General, dein Tank ist ein starker Wagen“ im Jahr 1937 schreiben, der Mensch, der dem General als Panzerfahrer oder Bomberpilot dient, habe einen Fehler: Er könne denken. Er könnte denken, könnte auf den Gedanken kommen, dem General bei seinem mörderischen Geschäft nicht mehr dienen zu wollen. Allerdings war Brecht alles andere als ein Pazifist. Den nicht von ihm stammenden Satz „Stell’ dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ ergänzte er mit: „Dann kommt der Krieg zu euch“. Das ist das typische Argument der Bellizisten.

Im Kontext der modernen Staatlichkeit klingt die Vorstellung, es wäre Krieg und keiner ginge hin, etwas absonderlich, denn gerade im Anfang eines Kriegs stehen sowohl Soldaten als auch Bevölkerung meist stramm auf der Linie ihrer Herrscher. Bei indigenen Völkern allerdings ist es durchaus üblich, dass der Stamm ihrem Häuptling die Gefolgschaft versagt, wenn der aus Gründen, den der Stamm nicht gutheißt, zum Kampf aufruft, wie der französische Ethnologe Pierre Clastres (1934–1977) in seinem Klassiker „Staatsfeinde“ (Originaltitel: „La Société contre l’État“, 1974) ausführt. Ich bin bereits eingegangen auf die Illusion der Arbeiterbewegung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, ein neuerlicher Kriegszug der Herrschenden würde durch einen Generalstreik beendet werden (Teil 17 dieser Serie). Gleichwohl hat es eine kriegsbegrenzende Wirkung, wenn die Zustimmung der Bevölkerung zum Krieg sinkt, so etwa im Vietnamkrieg, den die USA beenden mussten, weil es an der Heimatfront zu viel Widerstand gab (siehe Teil 9 dieser Serie). Die nationalistische deutsche Propaganda nach dem Ersten Weltkrieg behauptete ja auch, dass das Heer „im Feld unbesiegt“ gewesen und der Krieg nur aufgrund der bösen pazifistischen Propaganda an der Heimatfront verloren gegangen sei – so lautete die sogenannte „Dolchstoßlegende“. Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, ob etwas an ihr dran ist. Aber wenn etwas an ihr dran wäre, wäre dies ein Anlass zu großer Hoffnung: Ja, die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung kann die Militärs dazu zwingen, den Krieg einzustellen.

Die Frage, warum die Bevölkerung sich in die kriegerischen Handlungen ihrer Regierungen verwickeln lässt, erfordert tatsächlich die alles entscheidende Antwort. Brecht hat die grundlegende Rechtfertigung jeder Herrschaft auf den Punkt gebracht: Die Herrschenden behaupten, dass die von ihnen ausgeplünderte Bevölkerung im Falle der Befehlsverweigerung den Feinden in die Hände fallen würde – den Feinden, von denen angenommen wird, dass sie schrecklicher als die eigenen Herrschenden seien. Sobald wirklich ein stabiler Frieden statthaben würde, verlören die Herrschenden eine der stärksten Säulen, auf denen ihre Herrschaft beruht. Die lange Friedensphase in Westeuropa hat die Bevölkerung nachlässig werden lassen, was Rüstung und Wehrdienst betrifft. Selbst kurze Friedensphasen in Palästina und Israel führten in der Vergangenheit dazu, dass die Bevölkerung beginnt, den eigenen Herrschenden gegenüber aufsässig zu werden. Dann muss schnell ein neuer Krieg her, um den Leuten Mores zu lehren.


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