Krieg und Frieden – Teil 17: Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will
Die Arbeiterbewegung scheitert am Ersten Weltkrieg

Bis zum Sommer 1914 waren die führenden Köpfe der Arbeiterbewegung aller Fraktionen sicher, dass im Fall, dass ein neuerlicher Krieg zwischen den zentralen europäischen Großmächten drohte, ein Generalstreik in allen betroffenen Staaten es unmöglich machen würde, ihn zu führen: Sozialdemokraten, Sozialisten, Marxisten, Rätedemokraten, Syndikalisten, Anarchisten – wie verfeindet sie in anderen Fragen auch sein mochten – waren sich einig, dass die europäischen Arbeiter keinen weiteren Krieg mitmachen würden.
Nach der Eskalation im Sommer 1914, die am 28. Juli zum durch die Österreichisch-Ungarische Monarchie und das Deutsche Kaiserreich heraufbeschworenen Kriegsausbruch führte, fand im deutschen Reichstag am 4. August die Abstimmung über die Kredite statt, die die Mittel für den Krieg bereitstellen sollten. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands stimmte zu. Der eine der beiden Vorsitzenden der Partei, Hugo Haase (1863–1919), erklärte: „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich.“ Dies rührte den Kaiser dermaßen, dass er umgehend einen „Burgfrieden“ mit den Sozialdemokraten verkündete. Haase wird in dem ihm gewidmeten Wikipedia-Artikel als „Pazifist“ bezeichnet. Im Vorfeld des Kriegs hatte er zahlreiche Antikriegskundgebungen organisiert und noch am 3. August, also einen Tag vor der Abstimmung, innerparteilich gegen die Annahme der Kriegskredite votiert. Dennoch beugte er sich der innerparteilichen Mehrheit. Im Laufe des Kriegs wurde Haase von der SPD wegen seiner Ablehnung des Kriegs ausgeschlossen und gründete die USPD (Unabhängige SPD, Vorläuferin der KPD). Aber es war zu spät. Ähnliche Entwicklungen gab es in allen kriegsbeteiligten Ländern. Es kam überall zu Beginn des Kriegs zu einer breiten politischen Solidarität mit den jeweils eigenen kriegführenden Staaten. Die in Parteien organisierten Sozialisten akzeptierten zumindest anfänglich den Krieg, die Gewerkschaften rührten sich nicht, es kam zu keiner außerparlamentarischen Opposition und von Generalstreik war weit und breit nicht die Rede. Damit war die Arbeiterbewegung erledigt, sie hatte sich selbst abgewickelt und aus der Geschichte hinauskatapultiert.
Anstatt diese Entwicklung der opportunistischen oder fehlerhaften Haltung einiger damaliger führender Köpfe der Arbeiterbewegung anzukreiden (wie es in der Folgezeit bis heute üblich geworden ist), will ich untersuchen, ob ein Generalstreik in internationaler Solidarität das geeignete Mittel wäre, um Krieg zu verhindern.
Ein ökonomischer Streik ist der Versuch einer kollektiven Erpressung. Die Streikenden meinen, länger auf ihren Lohn verzichten zu können als das bestreikte Unternehmen auf die Produktion. Meist brechen Streiks allerdings zusammen, weil es sich genau andersherum verhält und weil andere Arbeiter bereitstehen, um in die Jobs der Streikenden einzusteigen, soweit es sich um Jobs handelt, die ohne oder mit geringer Einarbeitung ausgeführt werden können. Darum brauchen Streiks flankierend Maßnahmen, um diese sogenannten Streikbrecher daran zu hindern, die Arbeit aufzunehmen. In den westlichen Industrienationen hat sich aus dem Grund ein gesetzliches Regelwerk etabliert, das die (ökonomischen) Streiks in genau vorgeschriebenen Bahnen lenkt und aus bitterem Ernst eine Art strategisches Sandkastenspiel macht.
Ein Generalstreik mit politischer Zielsetzung steht deutlich schlechter dar. Zwar ist das Kalkül richtig, dass ein wörtlich genommener Generalstreik zum sofortigen Zusammenbruch des zivilisierten Lebens führen würde, aber genau das ist sein erstes Problem. Stellen wir uns vor, die Wasserwerker würden streiken. Wenige Tage später würde das Trinkwasser ausgehen. Die Folgen wären leicht auszumachen: chaotische Zustände auf den Straßen, die von Toten bedeckt würden. Die Bevölkerung würde leiden, und zwar genauso oder sogar noch schlimmer als im Krieg. Die Wahrscheinlichkeit, dass bloß die Herrschenden und die Reichen für sich Auswege finden, ist sehr hoch.
Andererseits: Wenn nur diejenigen Arbeiter streiken, deren Arbeit nicht relevant ist für den geregelten Ablauf des eigenen Lebens, handelt es sich um keinen Generalstreik mehr, und ein solcher Teilstreik hätte auch gar keine Wirkung auf die Handlungsmöglichkeit der Herrschenden, einen Krieg zu führen: Die Fähigkeit, einen Krieg zu führen, basiert auf der gleichen Infrastruktur wie jener des normalen zivilen Lebens. Massen mögen manipulierbar und durchschnittlich dumm sein. So dumm, dass sie diesen Zusammenhang nicht begreifen, sind sie nicht. Diejenigen, die vom Generalstreik gegen den Krieg träumten, waren es, die unfähig waren, die Durchführbarkeit sinnvoll zu planen und darzustellen.
Ein gezielter Streik in der Rüstungsindustrie würde den Krieg nicht kurzfristig verhindern, sondern nur mittelfristig austrocknen, aber ausschließlich dann, wenn der kriegführende Staat nicht in anderen Ländern Waffen einkaufen könnte. Ein solcher Streik würde verlangen, dass die streikenden Arbeiter und ihre Familien von der übrigen Bevölkerung über diese Zeit hinweg versorgt würden. Effektiv wäre ein Streik der Soldaten. Aber diese sind nun mal aufs Gehorchen trainiert und, soweit es nicht Wehrpflichtige sind, haben sie sich für den Beruf des Tötens entschieden. Sie streiken niemals am Beginn eines Kriegs, sondern höchstens dann, wenn er schlecht verläuft. Dann desertieren sie. Bei der Mobilmachung kommt es, wenn für den Krieg keine Begeisterung herrscht wie am Beginn des Ersten Weltkriegs, dazu, dass sich Wehrpflichtige entziehen, meist durch Flucht in ein anderes neutrales Land.
Es gibt eine Art Streik, die wirklich wirksam wäre, und das ist der Steuerstreik. Die Idee dazu gab es tatsächlich in den USA während der 1950er und 1960er Jahre, sogar unter dem großspurigen Namen des weltweiten Generalstreiks gegen die Aufrüstung. Die Beteiligung war bei Weitem viel zu gering, als dass der amerikanische Staat auch nur einen Gedanken daran verschwendete, den Streikenden entgegenzukommen (außer ihnen Strafbefehle zuzusenden).
Dass dem Steuerstreik so wenig Beachtung zuteilwurde, hat viel damit zu tun, dass große Teile der Arbeiterbewegung nicht die Staaten, sondern die Unternehmer („Kapitalisten“) als die Feinde betrachteten (und betrachten, soweit man heute noch von Arbeiterbewegung sprechen kann). Steuern wurden, außer von den Anarchisten, als nützlich und notwendig angesehen, etwas, an dem man selber gerne partizipieren würde; über den Staatshaushalt wollte man gerne selber verfügen. Darum war die Strategie, dem Staat die finanziellen Ressourcen zu entziehen, eher tabu. Streiks sollten sich gegen die „Ausbeuter“ richten.
Ganz besonders in Bezug auf den Krieg ist die übliche sozialistisch-kommunistische Analyse natürlich völlig unzutreffend oder zumindest unzureichend. Staaten oder protostaatliche Organisationen, die den Anspruch haben, Staaten werden zu wollen, führen Krieg: Organisationen mit territorialem Gewaltmonopol. Es mag sein, dass „Kapitalisten“ ein Interesse daran haben, einen Krieg zu führen, aber sie können dieses Interesse nur über eine staatliche Organisation verwirklichen. „Kapitalisten“ haben ein solches Interesse allerdings ausschließlich dann, wenn sie keine wirklichen Kapitalisten, sondern Staatsprofiteure sind – wenn sie ihr Einkommen statt auf dem freien Markt durch staatliche Zwangsmaßnahmen realisieren wollen: durch Subventionen, durch Zölle, durch Kolonien.
Auch der Steuerstreik würde, wenn er sich effektiv organisieren ließe, ein Problem der Infrastruktur und der Versorgung aufwerfen. Die Staatsangestellten und ihre Familien könnten nicht mehr bezahlt, sie müssten versorgt werden. Die Infrastrukturen, die in Staatshand sind, würden zusammenbrechen und müssten auf andere Weise aufrechterhalten werden. In der heutigen Zeit von Bankenherrschaft und Digitalisierung der Währung ist es dem Staat ein Leichtes, jedem Steuerverweigerer kurzerhand das Konto sperren zu lassen und damit den Streikenden jede Möglichkeit zu nehmen, sich zu ernähren. Ein Steuerstreik hätte nur dann eine Chance, wenn er mit der Entwicklung einer starken Gegenökonomie einherginge, inklusive Etablierung eines nicht-staatlichen Bargelds und des Aufbaus nicht-staatlicher Infrastrukturen. Die Beschäftigten der staatlichen Infrastruktur müssten diese in einem revolutionären Akt übernehmen. Und hier schließt sich der Kreis zur traditionellen Arbeiterbewegung. Die Syndikalisten hatten genau eine solche Strategie für den politischen Generalstreik vorgesehen: Die streikenden Arbeiter bleiben der Arbeit nicht fern, sondern sie übernehmen die Betriebe.
Die Analyse des fehlenden Widerstands gegen den Ersten Weltkrieg hat drei mögliche Strategien gegen den Krieg zutage gefördert: Steuerstreik oder Generalstreik mit Übernahme der Infrastrukturen, Streik der Soldaten und (mittelfristig) Streik in der Rüstungsindustrie. Alle drei Strategien sind bislang gescheitert oder nicht realisiert worden.
Keine Antwort gibt es auf das Problem, dass die Massen zum Beginn eines Kriegs vielfach in einen nationalistischen Taumel verfallen und gar nicht daran denken, Widerstand zu leisten. Das böse Erwachen kommt meist zu spät, nämlich wenn das gegenseitige Abschlachten schon in vollem Gange ist.
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