Parteienherrschaft: Wohin treibt die Bundesrepublik?
Dass das deutsche Staatsschiff auf eine Katastrophe zusteuert, ist nicht mehr zu übersehen
Bereits 1966 forderte der Philosoph Karl Jaspers (1883–1969) eine Umkehr, um die Bundesrepublik Deutschland vor dem Weg in den autoritären Parteienstaat zu bewahren. In seiner Schrift „Wohin treibt die Bundesrepublik“ (München 1966) beklagt er, dass die bundesrepublikanische Staatsstruktur „auf der Angst vor dem Volk, dem Misstrauen gegen das Volk“ (Seite 167) beruht.
Nun, fast sechzig Jahre später, muss man feststellen, dass sich daran wenig geändert hat. Heute wie damals gilt, dass nicht die Bürger die Träger des Staates sind, sondern die Parteien den Staat beherrschen und der Bürger Untertan ist. Die Bürger dürfen zwar zur Wahl gehen, aber die Personen, die zur Wahl stehen, sind vorher schon von den Parteien ausgewählt. Stets sind es Parteigremien, die bestimmen, und nicht das Volk.
Der Wahlberechtigte kann nur die wählen, die von der jeweiligen Partei schon gewählt sind. Außerhalb von den Personen, die die Parteien dem Volk zur Wahl stellen, hat der Bürger kaum eine Wahlmöglichkeit. Weder Präsident noch Kanzler werden vom Volk gewählt und die Wahlen zu den Parlamenten sind eigentlich gar keine Wahlen, sondern „Akklamation zur Parteienoligarchie“. Den Bürgern wird eine von den jeweiligen Parteien erstellte Liste vorgelegt, von der man nicht weiß, wie sie im Einzelnen zustande kam. „Der Bürger hat sich zu fügen: Zunächst den Vorschlägen der Parteien, dann der Obrigkeit, die sich für ihre Autorität auf das Volk beruft, das sie gewählt habe“ (Seite 128).
Als Organe des Volkes gemeint, das durch die politischen Parteien seinen Willen kundtut, sind die Parteien zu Staatsorganen geworden. Aber dieses Parteiwesen ist kein Volksorgan, sondern Organ des Staates und bringt es dadurch mit sich, dass der Obrigkeitsstaat seine Untertanen beherrscht. „Die großen Parteien sind selbständige Mächte geworden‘‘ (Seite 131) geworden, die den Staat beherrschen. Dieser moderne Staat ist keine Demokratie im eigentlichen Sinn. Der Staat sind die Parteien. Die Parteien haben den Staat usurpiert, wobei die Staatsführung in den Händen der Parteienoligarchie liegt. Die Herrschaft dieser Parteienoligarchie, so Jaspers (Seite 140), bedeutet „Verachtung des Volkes“. Neben dieser Verachtung des Volkes ist die Politik zugleich durch die Angst vor dem Volk geprägt. Die Verachtung des Volkes und die Angst vor dem Volk führen dazu, dass die Parteien mit all ihren Kräften versuchen, das Volk von einer direkten politischen Mitwirkung fernzuhalten.
Was Karl Jaspers 1966 befürchtete, ist spätestens in der Regierungszeit Merkels und der Nachfolgeregierung vollends manifest geworden und zeigt an, wo wir heute stehen. Der Weg geht „von der Parteienoligarchie zum autoritären Staat; vom autoritären Staat zum Diktaturstaat; vom Diktaturstaat zum Krieg“ (Seite 174). War bis vor wenigen Jahren für viele noch nicht manifest, was Karl Jaspers schon 1966 diagnostizierte, so ist es nun immer mehr der Fall. Wenn die Kriegstreiberei anfängt und der Wohlstand bröckelt, beginnt das Aufwachen: „Eine der größten Gefahren ist das Dulden seitens der Untertanen, die in ihrem Dasein zufrieden sind, solange sie teilhaben am Wohlstand. Sie fühlen sich nicht mitverantwortlich für den Gang der Politik, sondern sind gefügig. Sie lassen sich zunächst kaum merkbar die Fesseln gefallen, bis sie sich schließlich im Zuchthaus wiederfinden, aus dem sie keinen Ausweg mehr finden“ (Seite 191).
Die Bundesrepublik Deutschland ist weit davon entfernt, eine Demokratie im eigentlichen Wortsinn zu sein. Wenn man schon bei „Demokratie“ bleiben will, müsste man diesen Begriff mit dem Parteiwesen verbinden und so von einer „Parteiendemokratie“ oder gar von einem „Parteienstaat“ sprechen. Diese Erweiterung ist dadurch gerechtfertigt, weil die Parteien nicht nur an der politischen Willensbildung „mitwirken“, wie es in Artikel 21 des Grundgesetzes lautet, sondern auch die den Staat beherrschende Organisationen sind. Trotz dieser Einschränkung ist aber schon im Grundgesetz die Parteienherrschaft angelegt und die direkte politische Wirksamkeit des Volkes auf ein Minimum reduziert.
Aber das Problem der Parteienherrschaft gilt nicht nur für Deutschland. Es ist weltweites Phänomen. Die Akteure auf der modernen politischen Weltbühne sind Parteipolitiker. Das Hauptziel einer politischen Partei ist es, Macht zu erlangen. Dominanz ist das Ziel einer politischen Partei, und der Staatsapparat dient als ihr Instrument. Je größer und effektiver der Staat ist, desto besser dient er als Mittel der Unterdrückung und Kontrolle und damit zur Machterweiterung der politischen Partei. Politische Parteien wollen Macht und daher einen mächtigen Staat.
Dem typischen Berufspolitiker geht es nicht um die Menschen, sondern um seinen eigenen Machtgewinn. Doch in dem Maße, in dem der Politiker dominieren und regieren will, ist er seiner eigenen politischen Partei untergeordnet. Politiker zu sein bedeutet, selbst nicht frei zu sein. Als Mitglied einer politischen Partei muss er das Credo der Partei übernehmen, die Regeln der Partei befolgen und sich an die Prinzipien der Partei halten. Ein Politiker ist immer selbst ein Untertan, nämlich der seiner Partei. Außerhalb seiner politischen Partei hat er keine Macht. In dem Maße, in dem der Politiker herrschen will, steht er selbst unter der Autorität seiner eigenen politischen Partei. Als Parteimitglied muss er das Credo der Partei übernehmen. Die Partei besitzt den Politiker. Die Menschen wissen, dass der Politiker ein Betrüger ist, denn während er vorgibt, die Regeln zu machen und der Herr zu sein, ist er selbst das unglückliche Opfer seiner Partei und deren Ideologie.
Es ist keineswegs so, dass die Politiker und Staatsbeamten über ein höheres Wissen als die Menschen vor Ort verfügen. Durch die Herrschaft über die Staatsgewalt besitzen sie allerdings mehr Macht und können so den Untertanen ihre Vorurteile, Leidenschaften und Wahnvorstellungen aufzwingen. Damit es zu keiner starken Gegenwehr kommt, halten die Herrschaftsmächte einen gigantischen Manipulationsapparat in Betrieb.
Die politischen Parteien und die mit ihnen verbundene Technokratie als die modernen institutionellen Ausprägungen des Politischen gefährden den Frieden, die Freiheit und den Wohlstand. Der Ausweg besteht nicht in mehr Staat und mehr Politik, sondern in weniger Staat und weniger Politik. Es geht darum, die Parteienherrschaft zu beenden und zu einer freien Gesellschaft und Wirtschaft zu kommen. Diese Aufgabe stellt sich nicht nur für Deutschland, auch wenn sie gegenwärtig für die Bundesrepublik besonders dringend ist, da hier die Herrschaft der Parteienoligarchie besonders ausgeprägt ist.
Karl Jaspers: „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ (1966)
Antony P. Mueller: „Antipolitik“ (2024)
Kommentare
Die Kommentarfunktion (lesen und schreiben) steht exklusiv nur registrierten Benutzern zur Verfügung.
Wenn Sie bereits ein Benutzerkonto haben, melden Sie sich bitte an. Wenn Sie noch kein Benutzerkonto haben, können Sie sich mit dem Registrierungsformular ein kostenloses Konto erstellen.