„Kantönligeist“: Vom Angriff auf den dezentralen Aufbau der Schweiz
Nicht mehr zeitgemäß?
von Olivier Kessler
Bei jeder Gelegenheit – zuletzt prominent im Zuge der Corona-Krise – werden Stimmen laut, die kein gutes Haar am dezentralen Staatsaufbau der Schweiz lassen. Der Föderalismus sei ein nicht mehr zeitgemäßer Flickenteppich! Der unsägliche „Kantönligeist“ müsse überwunden werden.
Mit dem Begriff „Kantönligeist“ wird angetönt, dass es den kleinen, unbedeutenden Kantonen eigentlich gar nicht zustünde, ihr eigenes Ding durchzuziehen. Darauf deutet zumindest die Diminutiv-Endung „li“ im Wort „Kantönli“ hin, die im schweizerdeutschen Sprachgebrauch Dinge bezeichnet, die herzig oder klein sind, wie zum Beispiel „Hansli“ verniedlichend ein Junge namens Hans und „Fritzli“ verniedlichend ein Junge namens Fritz genannt werden. Und kleine Player – darauf soll der Begriff wohl abzielen – sollten sich davor hüten, sich selbst zu wichtig zu nehmen oder zu meinen, sie könnten die Angelegenheiten eventuell besser organisieren als ihre Konkurrenten. Denn ohne die anderen im Verbunde wären sie ja ein Nichts. Es gelte also, auf die anderen Rücksicht zu nehmen – und es gefälligst so zu machen, wie es alle anderen auch machen.
Diese Zurechtweisung erinnert an eine Familie mit autoritärem Erziehungsstil, wobei die unmündigen Kinder (die Kantone) sich gefälligst an die Regeln der Eltern (des Bundes) zu halten hätten. Kinder, die meinten, sie könnten ihre eigenen Regeln aufstellen und durchsetzen, werden gemaßregelt und mit harter Hand in ihre Schranken gewiesen.
Insofern ist die Verwendung des Begriffs „Kantönligeist“ irreführend. Kantone wurden nicht als Untertanen des Bundes konzipiert. Sie sind nicht etwa aus der Gnade oder aus dem Goodwill des Bundes hervorgegangen. Bevor die Schweiz 1848 zum Bundesstaat wurde, war sie ein Staatenbund. Der Rütlischwur aus dem Jahr 1291 bringt den Geist der einst freiwilligen Kooperation zum Ausdruck:
„Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.“
Es ging nicht darum, dass man eine höhere Ebene wie den Bund schaffen wollte, der die kleineren, dezentralen Ebenen bevormunden und herumkommandieren durfte. Vielmehr stellte der Schwur eine Art Beistands- und Kooperationsvereinbarung dar, nicht jedoch eine Unterwerfungsvereinbarung, zumal ja explizit der Wille zur Freiheit und zur Abwehr von Knechtschaft betont werden.
Leider hat sich die Schweiz nach dem Sonderbundskrieg und einem Akt der Unterwerfung gewisser Kantone 1848 von einem Staatenbund zu einem Bundesstaat gewandelt. Damit wurden auch zentralisierte Instanzen geschaffen, die seither immer mehr Macht akkumulieren. Die Kantone wurden zunehmend zu Ausführungsinstanzen degradiert, die die Befehle aus Bundesbern umsetzen mussten.
Weil diese Entwicklung schleichend vollzogen wird, geht auch schleichend aus dem kollektiven Bewusstsein der Schweizer verloren, dass das Element der föderalistischen Dezentralität, von dem heute immer noch Fragmente vorhanden sind, ein elementarer Erfolgspfeiler des Landes war, dem es die Schweiz zu verdanken hat, dass sie auch im Jahr 2022 in diversen internationalen Vergleichsrankings wie dem Index wirtschaftlicher Freiheit (Rang drei) oder dem Index der Eigentumsrechte (Rang drei) immer noch die Nase weit vorne hat. Interner Wettbewerb stärkt.
Natürlich – mit ihren 20 Kantonen, sechs Halbkantonen und rund 2.200 Gemeinden – mag die Schweiz in der Tat wie ein Flickenteppich erscheinen. Doch diese enorme Vielfalt hat große Vorteile. Hinsichtlich des Staatsumfangs und der Staatsausgaben etwa steht die föderalistische Schweiz deutlich besser da als die meisten anderen Länder, weil hier die Bürger weniger stark vom Steuerstaat ausgebeutet werden. Nehmen wir zum Beispiel die allgemeinen Staatsausgaben in Prozenten des Bruttoinlandsprodukts in den Blick. In der Schweiz lag dieser Anteil 2017 über alle Staatsebenen hinweg bei 34 Prozent. In Großbritannien betrug er 42 Prozent, in Deutschland 44 Prozent, in Österreich 51 Prozent und in Frankreich satte 56 Prozent: Größer und zentralisierter bedeutet für Staaten eben nicht, dass sie deswegen effizienter werden. Ganz im Gegenteil!
Dennoch wird immer wieder behauptet, dass eine stärkere Zentralisierung politischer Entscheidungsmacht nach Bundesbern oder sogar nach Brüssel vorteilhaft wäre. Und ja, die Idee der politischen Zentralisierung hat zweifelsohne ihre oberflächliche Anziehungskraft. Warum 26 Lösungen für ein Problem? Warum eine Duplizierung, Multiplizierung von Funktionen und Prozessen, wenn doch eine Lösung reicht? Für Anhänger von Zentralismus und Vereinheitlichung sind Markt und Wettbewerb im politischen Bereich gleichbedeutend mit Verschwendung. Was aber, wenn Symmetrie und Einheitlichkeit für die zahlende Bürgerschaft weniger ins Gewicht fallen als Bürgernähe? Ist es wirklich vorteilhaft, wenn in allen Kantonen zum Beispiel der gleiche ideologisierte Lehrplan zur Anwendung kommen muss, anstatt einen Bildungswettbewerb zuzulassen, der die Qualität der Bildung tendenziell erhöht?
Das Prinzip der Subsidiarität stützt die föderale Struktur. Es vermutet die primäre Kompetenz, aber auch die primäre Fähigkeit, beim kleineren Verband. Gemeinden und Kantone, die ihre Probleme selber lösen, nutzen nicht nur die natürliche Betroffenheit ihrer Teile; sie verwerten auch lokales Wissen und die Vertrautheit mit konkreten örtlichen Gegebenheiten. In einem solchen System gehört es zur Freiheit und Souveränität des Steuerzahlers, dass er über die Urne hinaus mit seinen Füßen abstimmen kann – eine Möglichkeit, die Kantonen und Gemeinden immer wieder Beine macht. Im föderalen Verband politisieren heißt darum: mit Unterschieden leben, Vor- und Nachteile von Reformen abwägen, vergleichen und daraus immer wieder neue Lehren zu ziehen. Im föderalen Staat findet also Lernen im breiten Stil statt. Und die dezentralen Politakteure sind gezwungen, zu lernen und sich zu verbessern – was ganz im Sinne der Bürger ist.
An den Grundpfeilern des Föderalismus wird gerüttelt, wenn ein üppiger Umverteilungsapparat zwischen den Kantonen installiert wird, der den Erfolgreichen nimmt und den Erfolglosen gibt. Das ist faktisch der Anfang vom Ende des innerstaatlichen Wettbewerbs. Und genau das wurde in der Schweiz leider gemacht: Mit dem Finanzausgleich zwischen den Kantonen wird einer Minderheit von erfolgreichen Kantonen Gelder abgeknöpft, um diese an eine Mehrheit von Empfänger-Kantonen auszuschütten. Durch dieses perfide Mehrheitsverhältnis ist sichergestellt, dass die ausgebeuteten Kantone sich kaum gegen diesen Raubzug zur Wehr setzen können. Mit dem Finanzausgleich werden nicht nur die Anreize für die Erfolgreichen zerstört, weiterhin gut zu bleiben. Es werden auch Anreize zur Errichtung und Beibehaltung von Steuer- und Regulierungshöllen gesetzt. Denn diesen fließen weiterhin Steuergelder zu, die anderswo eingetrieben werden.
Es wäre höchste Zeit, die dezentralen Strukturen wieder zu stärken. Den Kantonen gilt es die Regulierungs- und Steuerhoheit in so vielen Belangen wie möglich zurückzugeben und den interkantonalen Finanzausgleich abzuschaffen, der diverse Vorteile des Regulierungs- und Steuerwettbewerbs für die Allgemeinheit zunichtemacht. Dann kann der Föderalismus wieder seine volle Stärke ausspielen und die Leute würden den „Kantönligeist“ wieder vermehrt zu schätzen wissen, weil er ein wichtiges Korrektiv gegen die Machtanmaßung von Politikern ist und sicherstellt, dass Politik im Sinne der Bürger gemacht wird.
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