Libertäre Philosophie – Teil 25: Die Geburt der Ideologiekritik: Max Stirner
Hegel geht als Gespenst um
von Stefan Blankertz
In Frankreich hatte Proudhon (Teil 24 dieser Serie) aus Hegel (Teil 23 dieser Serie) einen revolutionären Soziologen gemacht, jemanden, mit dem man die Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Veränderungen analysieren kann. Bei Max Stirner (1806–1856), einem unmittelbaren Hegelschüler, wird Hegel zum Ideologiekritiker. Wenn Ideen sich verwirklichen, dann macht dies den Wunsch des Ideenträgers zur Wirklichkeit: Was sich verwirklicht, ist nicht die abstrakte Idee, sondern der konkrete Wunsch eines Akteurs: Er will, dass das, was er denkt (also für richtig oder, besser: für sich nützlich hält), Wirklichkeit werde. Damit ist jeder Prozess der Verwirklichung ein egoistischer Vorgang: Jemand macht seinen Willen zum beherrschenden Prinzip. Was es also zu beachten gilt, ist immer der egoistische Wunsch hinter der Idee, nie die Idee selber, die nur zur ideologischen Bemäntelung des Egoismus dient. Stirner hat nur ein Buch geschrieben, „Der Einzige und sein Eigentum“, in dem er 1845 diesen Gedanken durchdekliniert; daneben gibt es nichts weiter als eine Handvoll kleinerer Schriften.
Jener Gedanke ist inzwischen so geläufig, dass es fast trivial klingt, ihn auszusprechen. Aber er geht auf Stirner zurück. Er hat ihn als Erster geäußert. Zwar ist er inzwischen, wie gesagt, geläufig, aber immer noch so provokativ wie nur möglich: Im sozialen und politischen Alltag wird immer noch behauptet, man folge nur den höchsten und edelsten Zielen, und niemand lässt sich gern anhängen, egoistisch zu sein.
Weil Stirner alle Moral nicht nur ablehnt, sondern genüsslich durch den Kakao zieht, darunter zählen auch unumstrittene Imperative wie „Du sollst nicht töten“, gilt er als Schmuddelkind der Philosophie. Kaum jemand lässt sich gern damit erwischen, von Stirner beeinflusst oder sogar fasziniert worden zu sein. Selbst Friedrich Nietzsche (Teil 27 dieser Serie), der mit seiner Philosophie „Jenseits von Gut und Böse“ (1886) ja nicht weniger kontrovers und radikal vorging, vermied eine direkte Bezugnahme. Marx (Teil 26 dieser Serie) attackierte den Zeitgenossen und Konkurrenten im Kreis der Jung- und Linkshegelianer scharf, aber setzte bei der Entwicklung des eigenen Materialismus die Kritik Stirners am ideologischen Überbau voraus.
Stirners Philosophie lässt sich auf dreierlei Art lesen, erstens als Ideologiekritik, zweitens als Psychologie sowie drittens als Morallehre (wobei er die letztere Bezeichnung selbstredend strikt abgelehnt hätte).
Erstens: Die ideologiekritische Lesart liegt zunächst auf der Hand. Stirner untersucht Herrschaftsansprüche und widerlegt ihre Geltung. Seine Methode ist die der Prüfung auf einen performativen Eigenwiderspruch. Im Namen Gottes wird selbstlose, altruistische Unterwerfung unter seine Gebote eingefordert, doch Gott selbst ist ein Egoist, ihm geht es nur um sich, er ist sich selbst genug, er handelt nicht selbstlos und nicht altruistisch. Im Namen des Volkes wird von Patrioten verlangt, sich für das Vaterland aufzuopfern, aber das Vaterland opfert sich nicht für die Patrioten auf, aus deren Blut es hervorgeht. Diese Methode ist immer gleich und nach kurzer Lektüre hat man den Dreh raus. Es wiederholt sich alles beständig und wird zunehmend langweilig. Dennoch hat die Lektüre einen befreienden Charakter: Wenn man auf genau die Ideologie stößt, der man selber erliegt, pfeffert man entweder das Buch oder die Ideologie in die Ecke. Obgleich in der ewigen Wiederkehr des Gleichen ermüdend, ist Stirner als Ideologiekritiker für den Prozess der Befreiung unverzichtbar. Die Herrschaftsansprüche als ideologische Bemäntelung egoistischer Interessen der Herrschenden zu entlarven, muss der Aktion vorausgehen, sich der Herrschaft zu entledigen.
Zweitens: Eine zweite Lesart Stirners verwendet ihn als Psychologen. Jeder Akteur kann nicht anders, als das zu tun, was er tun will. Die Rede davon, jemand sei „altruistisch“, bleibt ein Widerspruch gegen sich selber. Denn wer sich für jemand anderen aufopfert, will dies tun. Er würde sich schlecht fühlen, wenn er es nicht täte. Er fühlt sich besser, weil er es tut. Er tut es um seiner selbst willen, um seiner Ehre willen, um der Befriedigung seiner körperlichen, materiellen oder ideellen Bedürfnisse willen. Psychologisch gesehen ist Altruismus eine Unmöglichkeit; Altruismus ist nichts anderes als die Bemäntelung einer egoistischen Forderung (und hier sind wir dann wieder bei der Ideologiekritik), dass der Andere mir statt sich selber dienen möge. Wer statt sich selbst jemand Anderem dient, handelt zwar auch egoistisch (denn wenn er es tut, tut er es, weil er es will), aber er ist ein uneingestandener, mithin dummer Egoist. Ein dummer Egoist ist nach Stirner freilich auch der, der landläufig als „Egoist“ bezeichnet wird, weil er sich bloß selbst bedenkt und sich Anderen gegenüber rücksichtslos verhält; das ist ein dummes Verhalten, weil die Anderen sich nun gegen den „Egoisten“ wenden – er erleidet aufgrund seines Verhaltens Nachteile und das ist eben ganz und gar nicht egoistisch. In der Antwort auf Kritiker (in der er von sich als dritter Person spricht) schreibt Stirner: „Werde Ich (Ego) dadurch zum Beispiel ein Egoist, dass Ich die Menschen fliehe? Ich isoliere oder vereinsame Mich allerdings, aber egoistischer bin Ich dadurch nicht um ein Haar mehr, als Andere, die unter den Menschen bleiben und ihres Umgangs sich freuen. Isoliere Ich Mich, so geschieht es, weil Ich in der Gesellschaft keinen Genuss mehr finde; bleibe ich aber unter den Menschen, so bleibe Ich, weil sie Mir noch Vieles bieten. Das Bleiben ist nicht weniger egoistisch als die Vereinsamung. In der Konkurrenz steht freilich Jeder isoliert; wenn aber die Konkurrenz einst fallen wird, weil man einsieht, dass Zusammenwirken nützlicher sei als Isoliertheit, wird dann in den Vereinen nicht gleichwohl Jeder Egoist sein und seinen Nutzen wollen? Man erwidert, man wolle ihn aber auf Kosten Anderer. Ja, zunächst aber nur darum nicht auf Kosten Anderer, weil die Andern keine solchen Narren mehr sein wollen, ihn auf ihre Kosten leben zu lassen. Doch ,ein Egoist ist, wer nur sich allein bedenkt!‘ – Das wäre ein Mensch, der all die Freuden nicht kennt und schmeckt, die aus der Teilnahme an Andern, das heißt daraus entspringen, dass man auch Andere ‚bedenkt‘, ein Mensch, der unzählige Genüsse entbehrte, also eine – arme Natur. Weshalb aber soll dieser Verlassene und Isolierte im Vergleich mit reichern Naturen ein Egoist sein?“
Drittens: Die dritte Lesart Stirners deutet seine Kritik in einen eigenen Imperativ um: Du sollst egoistisch handeln! Dies mag zunächst widersinnig klingen, doch erinnern wir uns an Étienne de La Boétie (Teil 17 dieser Serie): Statt der Herrschaft zu dienen, sollten die Menschen ihre eigenen Interessen befördern, indem sie der Herrschaft die Gefolgschaft kündigen; denn unter der Herrschaft leiden die Unterworfenen. Sie können die Ideologie der Herrschaft abwerfen und sich befreien. Dazu brauchen sie keine Revolution anzuzetteln, sondern müssen nur aufhören, die Herrschaft mit ihrer Zustimmung zu füttern. Diese Lesart von Stirner macht ihn zwar für eine soziale Bewegung tauglich; doch zugleich ist sein Duktus so auf Vereinzelung und Rückzug aus aller Sozialität gerichtet, dass keine Bewegung aufkommen mag. Die organisatorische Kraft fehlt. Angemessen scheint mir Ernst Jüngers Gebrauch der Stirner’schen Philosophie: Man ist „Anarch“, nicht Anarchist, indem man sich von allen Herrschaftsansprüchen verabschiedet, inklusive des Anspruchs, eine gesellschaftliche Veränderung auf welche Weise auch immer herbeizuführen.
Egoismus als moralischen Imperativ hat Ayn Rand (Teil 35 dieser Serie) formuliert, allerdings in ganz anderer Art als Stirner, gerade weil sie der Vernunft zutraute, eine rationale Ethik zu formulieren. Diese rationale Ethik Ayn Rands setzte bei der (neben Stirner durch die Utilitaristen ausgebauten) psychologischen Einsicht an, dass der Mensch nicht anders könne, als eigene Bedürfnisse zu realisieren, mithin egoistisch zu handeln. Darüber hinaus akzentuiert sie die Ideologiekritik etwas anders als Stirner; sie führt den Nachweis, dass es im Wesentlichen die Altruisten (nicht die Egoisten) seien, die die Welt ins Unglück stürzen. Für Gott und Vaterland und für die Gerechtigkeit meinen sie, Menschenleben opfern zu dürfen, ja zu müssen. Egoismus ist ihr zufolge eine Tugend.
Stirner nannte sich nie einen Anarchisten. Doch ist seine Schrift „Der Einzige und sein Eigentum“ nicht nur für den individualistischen Anarchismus, vielmehr überhaupt für die anarchistische Theoriebildung bedeutend, sodass seine Weigerung, sich zum Anarchismus zu bekennen, überhaupt nicht auffällt; vor allem da keine andere Theorie oder Bewegung diesen Freak aller Freaks für sich reklamierte. Er hat organischen Anteil an der anarchistischen Bewegung, obwohl ihm auch inhaltlich gesehen die Position eines Außenseiters zukommt. Andere Gründungsväter des Anarchismus beflügelte ein ausgesprochenes Moralisieren; sie orientierten sich an Begriffen wie Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit. Stirner dagegen macht sich über Moral lustig: Sie stehe im Dienst der Herrschaft. Die Instanz, die Moral fordert, sei es die Religion, sei es der Staat, erlegt den Unterworfenen auf, altruistisch zu handeln, wogegen Personen, die die Instanz bemannen, rein egoistische Motive leiten. Proudhon (Teil 24 dieser Serie), Bakunin und besonders Kropotkin kennzeichnete aufgrund ihrer sozialistischen Anteile, die in großer Spannung zum Anarchismus standen, ein gebrochenes Verhältnis zum Eigentum. Wie der Titel seiner Schrift – „Der Einzige und sein Eigentum“ – nahelegt, findet man solche Vorbehalte gegen das Eigentum bei Stirner nicht.
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