Libertäre Philosophie – Teil 29: Der Philosoph als Möchtegern-Herrscher: Heidegger
Weiterführung oder Zerstörung der Phänomenologie?
von Stefan Blankertz
Zugegebenermaßen habe ich lange gezögert, Heidegger eine Folge dieser Serie zu widmen. Ich hege eine tiefsitzende Ablehnung, ja Verachtung für ihn und seine Philosophie. Die objektive Bedeutung Heideggers für die neuere Philosophiegeschichte jedoch macht es nötig, auf ihn einzugehen: Nicht nur die Weiterentwicklung der Phänomenologie, auch der französische Existenzialismus sind ohne Heideggers Einfluss nicht zu denken. Aber der Reihe nach.
Martin Heidegger (1887–1976) war ein unmittelbarer Schüler von Husserl (Teil 28 dieser Serie) und knüpfte auch unmittelbar an ihn an: Wenn es richtig ist, dass wir nur durch die Wahrnehmung in der Welt sind, dass wir etwas über die Welt nur durch die Analyse der Wahrnehmung erfahren und diese Analyse die Wahrnehmung zutage fördern muss, die in den Worten vergegenständlicht ist, dann hat sich die Philosophie vor allem mit der Befindlichkeit des Menschen zu befassen – Befindlichkeit im strikten Wortsinne: Wo befinde ich mich? Die Grundkoordinaten der Befindlichkeit sind „Sein und Zeit“, Titel von Heideggers Früh- und Hauptwerk aus dem Jahr 1927. Bei Sein und Zeit liegt es nahe, an Kants Anschauungsformen Raum und Zeit zu denken, aber Heidegger hatte einen Riegel vor solche philosophiegeschichtlichen Verbindungslinien geschoben: Mit großem Gestus behauptete er, die gesamte abendländische Philosophie seit Platon sei „seinsvergessen“, will sagen: Sie befasste sich mit Ideen, nicht mit dem Da-Sein. (Ganz anders Husserl: Er legte in seinen „Logischen Untersuchungen“ 1901 genaues Zeugnis ab über die philosophiegeschichtliche Entwicklung hin zu seiner Phänomenologie.)
Der Rundumschlag Heideggers gegen mögliche Vorläufer schien für die Anhänger zu bedeuten, dass es nicht nötig sei, sich mit der Philosophiegeschichte zu beschäftigen. Eine bequeme Position, die einem jedes (kritische) Nachdenken erspart. Man muss nur an den Lippen des Vorbeters hängen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die linken Verehrer Heideggers in Frankreich mit der Erzählung beruhigt, der Meister habe sich zunächst unter dem Druck der Verhältnisse dem Nationalsozialismus gebeugt, aber tapfer intellektuellen, wenn auch nicht tatkräftigen Widerstand geleistet. Diese Erzählung geriet immer mehr ins Wanken. Heidegger war schlichtweg ein Nationalsozialist im vollen Sinne des Wortes: Nationalist und Sozialist. Er wollte einen Führerstaat und er wollte in ihm eine wichtige Rolle als Ideologe. Noch in den späten 1930er Jahren denunzierte er einen philosophischen Konkurrenten, einen Kantianer, den er hätte retten können: In seiner Stellungnahme schrieb Heidegger, das „katholische System“ würde solche „objektiv-liberalen“ Ideen bevorzugen und damit junge Menschen täuschen und irreführen. So viel Unsinn in so wenigen Worten würde nicht einmal bei einem philosophisch Ungebildeten durchgehen. Bei einem Philosophen ist er ein Frevel. Es ist richtig, dass Heidegger wohl zunehmend realisierte, welches Gespenst er da mitgeholten hatte, an die Macht zu bringen. Aber richtig distanziert hat er sich nie davon. Das Einzige, was Heidegger im Nachhinein bedauerte, war, dass er nicht zur Beerdigung seines Lehrers Edmund Husserl gegangen ist. Husserl hatte der nationalsozialistische Staat gedemütigt, indem er den bereits emeritierten Professor aufgrund der Rassengesetze die Lehrbefugnis entzog. Die Witwe von Husserl lehnte Heideggers nach dem Krieg geäußerte Entschuldigung schroff zurück; sie wusste um die Heuchelei. Husserls Schülerin und Assistentin, die inzwischen heiliggesprochene Edith Stein, ermordete der nationalsozialistische Staat. Hätte Heidegger etwas für sie tun können? Er hat er nicht versucht. Seiner Schülerin und zeitweiligen Geliebten Hannah Arendt gelang die Flucht in die USA. Hätte er etwas für sie getan, wenn ihr das nicht gelungen und sie in die Hände des nationalsozialistischen Staats geraten wäre?
Die Frage lautet: Ist Heideggers unkritisches Verhältnis zum Nationalsozialismus schon vor der Machtübergabe an ihn bis zumindest zum Ende der 1930er Jahre die Verirrung einer Person oder hat diese Verirrung etwas mit seiner Philosophie zu tun? Ja, das hat sie.
Als Erstes muss man feststellen, dass Heidegger zwar die gesamte Philosophie seit Platon verdammte, aber in Wirklichkeit folgte er haargenau Platons Idee des Philosophen-Herrschers. Heidegger hatte die völlig abwegige Hoffnung, der Nationalsozialismus würde seine denkende Elite mit Heidegger an der Spitze zur Macht bringen oder wenigstens an der Macht beteiligen. Zwar freuten sich die Nationalsozialisten, dass ein renommierter Universitätsprofessor auf ihrer Seite stand, aber mehr auch nicht: Sie interessierten sich für seine Philosophie und für seine Visionen schlichtweg nicht. Heideggers Abwendung vom Nationalsozialismus hat also viel damit zu tun, dass er die Macht nicht erhalten hat, die er sich erhofft hatte.
Das ist nur die eine, die im Vergleich zur anderen weniger wichtige Seite. Denn vor allem ist es die Vernichtung des gesamten erreichten Standes kritischen Denkens, die er mit der Ablehnung der abendländischen Philosophie in Szene setzte. Das kritische Denken hat die Philosophen, wie wir in dieser Serie von Mal zu Mal gesehen haben, nicht davor bewahrt, in die Irre zu gehen und sich den Herrschenden anzudienen. Aber das kritische Denken ist immer auch der Stachel im Fleisch der Herrschenden gewesen: Sie mussten sich vor dem kritischen Denken rechtfertigen, mussten sich moralische Beurteilungen gefallen und sich der Prüfung auf innere Stimmigkeit unterziehen lassen. Das war ihnen immer unbequem, denn sie wollten lieber von Augenblick zu Augenblick genau das tun können, was die geeignetsten Maßnahmen waren, um ihre Herrschaft in den Wechselfällen der Tagesgeschäfte zu sichern. Heidegger dagegen setzte auf das reine Empfinden des nietzscheanischen Machtrausches. Ein kritisches Korrektiv fehlte.
Wenn Jean-Paul Sartre, einer der angesprochenen linken Bewunderer Heideggers in Frankreich, Ernesto („Che“) Guevara zujubelte und ihn den „vollkommensten Menschen unserer Zeit“ nannte („humain le plus complet de notre époque“, allerdings gibt es dafür keine belastbare Primärquelle), dann spiegelt sich darin die gleiche Distanzlosigkeit zur herrschenden Gewalt wie bei Heidegger. Maurice Merleau-Ponty, ein weiterer aus der Riege der heideggernden französischen Phänomenologen beziehungsweise Existenzialisten, schrieb kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ein Buch, in dem er den stalinistischen Terrorprozessen der 1930er Jahre eine gegenüber der bürgerlichen Gerichtbarkeit höhere Gerechtigkeit zusprach. Später setzte er sich zwar von Stalin ab (und wurde dafür von Sartre scharf angegriffen), das heilt aber das Problem nicht: Solange die Logik als kritisches Korrektiv keinen Platz im Denken zurückerhält, verbleiben solche Stellungnahmen im reinen Meinen. Die Beliebigkeit des Meinens macht die Philosophie zum Spielball der herrschenden Verhältnisse und den Philosophen zum Diener am Zeitgeist.
So ist es kein Zufall, dass Heidegger inzwischen auch zum Schutzheiligen bestimmter ökologischer Vorstellungen erkoren wurde. Während es in der Frühphase des ökologischen Denkens um das präzise Verständnis von kleinräumigen Prozessen der Selbstregulation ging, denen gegenüber alle Ansprüche einer zentralisierten, gewaltsam-staatlichen Regelung unterkomplex und fehlsteuernd sind, ist das ökologische Denken mittlerweile zur bloßen Befindlichkeit herabgesunken: Ich will aber, dass es so oder so ist. Für solch eine Befindlichkeits-Ökologie ist Heideggers Philosophie optimal geeignet.
Als beliebiger oder reiner Meinender ist der Philosoph (ebenso wie jeder andere Wissenschaftler) niemandem überlegen und kein Orientierungspunkt für irgendwen. Erst durch die Verwandlung von Meinung in eine stimmige Theorie kann der Philosoph etwas für das Verständnis der Welt beitragen, das über das Zufällige einer dem Zeitgeist oder den persönlichen Schrullen geschuldeten Meinung hinausgeht.
„Nicht Lehrsätze und ,Ideen‘ seien die Regeln eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige Wirklichkeit und ihr Gesetz.“ Es geht nicht darum, dass Heidegger dies in seinem „Aufruf an die Deutschen Studenten“ Ende 1933 sagte, nicht einmal darum, dass er sich nie hiervon distanzierte. Es geht einzig und allein darum, dass diese beiden Sätze nicht als „Meinung“ Heideggers neben seiner Philosophie stehen, sondern dass sie seiner Philosophie entsprechen (allerdings fanden die Nationalsozialisten sich darin keineswegs wieder – für sie war die nationalsozialistische Idee überhaupt das Höchste): Wenn es keine der Wirklichkeit oder dem Gesetz übergeordnete Idee gibt und man auf das Meinen allein angewiesen ist, wird die Frage der Gestaltung von Gesellschaft, Gemeinschaft und Politik zur Machtfrage. Der oder die Führer, gewählt oder ungewählt, entscheiden per ihrem von jedem Denken losgelösten Willen. Man hat diese Position Nietzsche (Teil 27 dieser Serie) in die Schuhe geschoben, sie passt jedoch viel besser als Deckel auf Heideggers Topf.
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