Libertäre Philosophie – Teil 30: Die Janusköpfigkeit des Pragmatismus: John Dewey
Ein vernünftiges Prinzip unvernünftig angewandt
von Stefan Blankertz
Amerikanern wird Philosophie nicht zugetraut. Hierin drückt sich die Arroganz des alten Europas aus. Umgangssprachlich findet Pragmatismus als Synonym für prinzipienloses Kompromisslertum und für Opportunismus Verwendung. Dabei stellt der philosophische Pragmatismus ein ebenso vernünftiges wie unhintergehbares Prinzip auf: Das jeweils zu lösende Problem steht im Vordergrund, und es bildet den Ausgangspunkt aller Überlegungen. Es ist sinnvoll, der Ursache des Problems auf den Grund zu gehen, jedoch nur bis zu jenem Punkt, an dem man eine Lösung finden kann. Dies gebietet die Ökonomie des Denkens und Verhaltens: Wenn ein Problem gelöst wurde, wird es uninteressant und die betreffende Sache tritt in den Hintergrund. Um an die Ursache eines Problems zu kommen, brauchen wir Wahrnehmung und Logik als Instrumente.
Die europäische Tradition ging umgekehrt vor. Stets war ihr Bestreben, bis zu den ersten Ursachen, zu der einen ersten Ursache vorzudringen. Zunächst muss man das Sein als Basis etabliert haben, um von da aus aufsteigend zu den profaneren Dingen herabsteigen zu können. Nur leider stellte sich die Rekonstruktion der ersten Ursachen stets als so verzwickt dar, dass dann kaum Zeit und Energie verblieben, um sich mit dem schnöden Alltag und dessen Problemen zu beschäftigen. Überdies fand man sich vor der Hürde, dass Ableitungen aus dem ersten Sein nicht so bruchlos erfolgten wie gedacht. Thomas von Aquin (Teil 14 dieser Serie) etwa bedauerte, dass die Menschen sich zwar über die obersten Prinzipien der Moral weitgehend einig seien, aber bei Deduktionen aus ihnen komme es zu mancherlei Fehlern. Dennoch beschäftigten ihn die obersten Prinzipien, während er bei den Deduktionen selber oft schlampig und inkonsistent vorging. Noch Husserl (Teil 28 dieser Serie) war so sehr damit beschäftigt, herauszufinden, was die Basis der Erkenntnis sei, dass er selten bis zu den Sachen gelangte, obwohl der Schlachtruf der Phänomenologie erklang: Zurück zu den Sachen selbst! In dem Besten, was er je schrieb, seinen „Cartesianischen Meditationen“ (1930 ), ging es ihm um die „absolute Begründung der Wissenschaft“. Sein Hauptproblem war, das Ich (Ego) zu konstituieren, als vorhanden auszuweisen. Die Selbstvergewisserung, als ein Ich zu sein, sollte die Basis für alles Weitere werden.
Die amerikanische Philosophie des Pragmatismus hat etliche Väter. Ich stelle John Dewey (1859 –1952) heraus, zum einen, weil er der eloquenteste Vertreter des Pragmatismus war, zum anderen, weil er als Begründer der amerikanischen Erziehungswissenschaft einen überragenden gesellschaftlich-praktischen Einfluss ausübte (und ausübt). An diesem Einfluss lässt sich gut die Problematik des Pragmatismus deutlich machen.
Politisch stand Dewey im Lager des Progressivismus, einer amerikanischen Variante der Sozialdemokratie, deren Hauptanliegen darin bestand, das dem Kapitalismus unterstellte Konkurrenzdenken zu überwinden. Dewey brachte das Ideal vom Ende der Konkurrenz, das sich zwar kritisch dünkte, jedoch bereits Konformität ausdrückte, bereits am Ende des 19. Jahrhunderts auf den Punkt, nämlich alle Menschen „zu verbinden zu einem harmonischen Ganzen von Mitgefühl und Handeln“. Wie viel Gewalt hinter dem progressiven Ideal steht, kann man an folgender Abschätzung des positiven Effekts des Ersten Weltkriegs ermessen, die Dewey 1917 formulierte: „Ein europäischer Unternehmer muss im Kriegszustand herstellen, was die Regierung von ihm verlangt; muss seine Produkte zu Preisen verkaufen, die die Regierung festlegt; muss Arbeitern zahlen, was die Regierung vorschreibt, und wenn dann ein Gewinn übrig bleibt, kann die Regierung sich ihn aneignen, um die Kosten des Kriegs zu decken. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass das alte Prinzip freien Unternehmertums jemals wieder aufgenommen werden wird. Ich erwarte nicht, dass der Wandel [in den USA] so plötzlich eintritt ; die industrielle Demokratie ist aber auf dem Weg. Die Herrschaft der Arbeiter und Soldaten wird nicht auf Russland beschränkt bleiben.“
Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lasse: Kriegswirtschaft bedeutet industrielle Demokratie, deren Ideal die zentralstaatliche Organisation der Wirtschaft darstellt. Für das Staatswachstum kannte Dewey 1927 keine prinzipielle Grenze: „Es gibt keinen feststehenden und universell gültigen Satz, aufgrund dessen die Funktionen eines Staats eingeschränkt oder erweitert werden sollten. Ihr Umfang ist etwas, das kritisch und experimentell bestimmt werden muss.“
Dieser Satz formuliert genau das Problem des Pragmatismus: Er fügt sich rückgratlos in die herrschende Maschinerie ein, weil er von ökonomischen, gesellschaftlichen und moralischen Prinzipien absieht. Die globale Sozialtechnik hat aber einen Fehler: Sie produziert gemütskranke Menschen und verstopft alle Aussichten auf eine Zuflucht. Mit dem Verlust von Konflikten und von konfliktklärenden Verhaltensweisen verschwinden der Gedanke an alternative Möglichkeiten und der Wille zur Veränderung. Die Unzufriedenheit kann sich politisch nicht vernünftig äußern, sondern staut sich auf bis zur Bereitschaft, das bedrückende Ganze einschließlich der eigenen Person zu zerstören.
Eine kritische Frage nach Erziehung erhob sich für Dewey, weil in der gesellschaftlichen Wirklichkeit die amerikanischen Werte – vor allem: soziale Selbstorganisation, ökonomische Selbständigkeit, politische Selbstverwaltung – zunehmend an Bedeutung verloren. Dewey fiel es nicht schwer, diese ursprünglichen amerikanischen mit den Werten europäischer Bildungsphilosophie – etwa jenen der Mündigkeit – zu verknüpfen. Von diesen Werten her bestimmten sich die beiden zentralen Merkmale der Dewey’schen Erziehungskonzeption: Erziehung hat – erstens – Gesellschaft als Mikrokosmos nachzubilden, das heißt, die ideale Gesellschaft vorwegzunehmen, und sie hat – zweitens – eine neue, das heißt bessere Gesellschaft vorzubereiten. Dewey meinte nicht, dass dieser Prozess der ausdifferenzierten Erziehung wieder in eine Identität von Gesellschaft und Erziehung einmünden werde oder solle. Er glaubte nicht an die Vollendung der idealen Gesellschaft, sondern an eine unendliche Aufgabe.
Der Gedanke, Erziehung habe eine unendliche Aufgabe, schloss ein, dass der Erziehungsprozess selbst nicht in festen dogmatischen Bahnen verlaufen dürfe. Auch die Gestaltung der Erziehung ist eine unendliche Aufgabe, die offen für Veränderung und Verbesserung bleiben muss, gerade vonseiten der dem Erziehungsprozess Unterworfenen. Dieser Gedanke macht verständlich, dass und warum Dewey Sympathie für anarchistische Ideen aufbrachte. Belegt sind seine Freundschaft zu Emma Goldman und sein waches Interesse für anarchistische Siedlungs- und Schulexperimente.
Auf der anderen Seite kann festgestellt werden, dass Deweys Konzept in der Realität geradezu das Gegenteil des Intendierten bewirkte. Unter Vernachlässigung des Offenheits-Gebotes wurde Erziehung nach Dewey als Instrument missverstanden, entweder um die ideale Gesellschaft durchzusetzen, nämlich indem die Kinder dem Ideal angeglichen werden, oder um die Kinder in die bereits für ideal gehaltene bestehende Gesellschaft einzupassen. Deweys Erziehungskonzeption hat die Entstehung und Entwicklung des liberal-korporatistischen Staates wenn schon nicht gewollt, so doch nahegelegt und institutionell vorbereitet. Unter einem liberal-korporatistischem Staat ist zu verstehen, dass der vorgeblich demokratische und liberale Staat durch politische und ökonomische Maßnahmen eine fast vollständige Kontrolle und Steuerung der Gesellschaft erreichte; insbesondere durch die Maßnahme, die gesellschaftlichen Organisationen mittels ihrer Finanzierung aufzukaufen und mittels Gesetze, die die Organisierten – etwa Berufsverbände – „selber“ forderten, zu reglementieren. Wichtige Pfeiler des liberal-korporatistischen Staats sind die Gewerkschaften, Berufs- und Unternehmerverbände, das von Patriotismus getragene Militär, der militär-industrielle Komplex sowie Schulen und Universitäten. Der Erziehung fällt im liberalen Korporatismus die Aufgabe zu, den Kindern das rechte Gemeinschaftsgefühl einzubläuen: stets sozial zu handeln, sich stets zu organisieren, ihre Interessen als stets gesellschaftliche anzusehen. Dies aber entspricht exakt Deweys konkreten Erziehungszielen.
Deweys Intention liegt auf der Hand: Er argumentierte mit antiautoritärem und basis-demokratischem Impuls gegen überkommene Hierarchien und für eine Ordnung, die von den um eines Ziels willen kooperierenden Menschen selber entwickelt und überwacht wird. Womit ist es zu erklären, dass diese Intention in Massenuniversitäten, Technokratie, Wohlfahrtsbürokratie und Vorstadtidylle, in ein sozialisierendes Klassenzimmer, wo das Kind lernt, dass Freiheit bedeutet, gesellschaftliche und institutionelle Ziele zu verwirklichen, mündet? Dewey realisierte nicht, dass seine Ideen im Rahmen einer öffentlichen und einheitlichen Pflichtschule degenerieren müssen zu einem Instrument, das die Identität eines Menschen aufgehen lässt in seiner Rolle bei den Gruppenveranstaltungen. Im Unterschied zu dem Kinderspiel und den in ihm generierten Regeln – anhand derer Dewey seine Erziehungskonzeption entwickelte – ist die Pflichtschule eben keine spontane und freiwillige Gruppierung, zusammengehalten von Interesse an der Sache und von Sympathie der Mitglieder füreinander, sondern vielmehr eine Zwangsvereinigung. Es ist etwas völlig anderes, sich den Regeln einer Gruppierung zu unterwerfen, die man zur Not wieder verlassen kann, als den Regeln einer Gruppierung unterworfen zu sein, aus der es kein Entrinnen gibt. Zur Teilnahme an der Pflichtschule haben nicht nur alle Gelegenheit, sondern alle sind zur Teilnahme angehalten. Innerhalb der Schule als Zwangsvereinigung bedeutet der Übergang vom autoritären Lernen akademischer Fächer zur demokratischen und progressiven Schule eine Ausweitung, nicht eine Begrenzung der sozialen Kontrollmöglichkeiten. Die Ausweitung der Schule zu einer Instanz, die das ganze Leben der Heranwachsenden und die gesamte heranwachsende Generation umfasst, führt zu einer von Dewey (eventuell) nicht gewollten zunehmenden Zentralisierung und Bürokratisierung, zu einer Erosion der lokalen Kontrolle über die Schulen. Mindestens leistete er der Entwicklung dahin Vorschub, indem er mit den Architekten des Korporatismus die Vorstellung propagierte, individuelle Gefühle und Handlungsweisen unter soziale Kontrolle zu bringen, und es unterließ, den Zwangscharakter der Schulgemeinschaft als Teil der gesamten Situation zu sehen.
Der Kampf der diesen Korporatismus formierenden Kräfte richtet sich gegen die asoziale Seite der amerikanischen Werte : gegen Eigensinn, Individualismus, Konkurrenzgeist, Selbstgenügsamkeit, Selbstjustiz, Regionalismus. Dewey ist es als Fehler anzukreiden, die amerikanischen Werte unkritisch als sozial und harmonisch gedeutete und so ihre Funktion im individuellen Widerstand gegen kollektive Überwältigung verfehlt zu haben. Indem Dewey die asoziale Funktion der amerikanischen Werte leugnete, arbeitete er (unbewusst?) dem Korporatismus in die Hände, dessen Ziel eine reibungslos funktionierende und zentral zu steuernde Gesellschaft ist – mithin das Gegenteil von Deweys Offenheitsgebot.
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