Libertäre Philosophie – Teil 31: Theodor W. Adorno: Das Ganze ist das Unwahre
Was ergibt Marxismus plus Psychoanalyse?
von Stefan Blankertz
Hegel (Teil 23) hatte die Geschichte als durch den Weltgeist gesteuerten Weg hin zur Realisation von immer mehr Freiheit rekonstruiert, Marx (Teil 26) hatte dies dahingehend ergänzt, dass der Motor der Entwicklung nicht der Weltgeist, sondern die Abfolge von Klassenkämpfen sei, die sich durch einen letzten, den zwischen Proletariat und Bourgeoisie, in eine glänzende klassenlose Zukunft erschöpfen würde. 1917 und einige Jahre danach schien es so, als befinde sich diese Hegel-Marx-Fusion tatsächlich auf der Siegerstraße der Geschichte. Doch Leninismus und Stalinismus wandelten sich nach einer Übergangszeit des brutalen Staatsterrors zu einem mehr schlecht als recht funktionierenden Bürokratismus, der nicht besser, sondern schlechter als der Kapitalismus funktionierte und ein tristes Leben hervorbrachte. Statt einer Verbreitung der marxistischen Revolution siegte (vorübergehend) der Faschismus. Die „kapitalistischen“ Staaten standen etwas besser da, aber auch in ihnen nahm der Bürokratismus überhand; sie verstanden es nicht, Hunger und Krieg zu überwinden. Alle Versprechen der Aufklärung, ob nun in liberaler oder in sozialistischer (kommunistischer) Ausprägung, verkehrten sich in ihr Gegenteil.
Es gab einen Denker der Nachkriegszeit, der es verstand, dieser Entwicklung Rechnung zu tragen: Theodor W. Adorno (1903–1969). Aus der realen Entwicklung der Geschichte leitete er drei Modifikationen von Hegel und Marx ab, in deren Denkrahmen er sich weiterhin bewegte. Die erste Modifikation bezieht sich auf die Richtung der Dialektik: Die Dialektik der Aufklärung bedeutet, dass das, was als Befreiung versprochen ward, zur Knechtung auf höherer Stufe degeneriert. Ja, das Versprechen der Technik, mit der Naturbeherrschung Mangel und Not überwinden zu können, wird zu einer Knechtung mittels der Technik. Aus Naturbeherrschung wird eine Beherrschung durch eine andere Art Natur; die Technik ist eine „zweite Natur“, deren Knechtung unentrinnbarer wirkt als die durch die erste Natur. In dieser „negativen Dialektik“ kann man nicht mehr sagen, was positiv erreicht werden sollte, weil alle Utopien enttäuscht wurden; man kann nur noch sagen, was nicht (mehr) sein solle.
Kritik wird zum Kerngeschäft der Philosophie. Und hieran schließt sich die zweite Modifikation an, die Adorno vornahm: Die Warnung vor der Praxis. Praxis hat vor allem die Tendenz, den Praktiker an die bestehenden Verhältnisse zu binden. Selbst revolutionäre Umsturzversuche unterliegen dem Praxiszwang, immer realistisch zu sein. Realistisch sein heißt aber, nicht über das Bestehende hinaus denken zu können. Eine befreiende Theorie muss sich als allererstes vor diesem Praxiszwang hüten. Hiermit geriet Adorno sofort mit den marxistischen Aktivisten in Konflikt, für die es im Anschluss an Marx nicht darauf ankomme, die Welt zu interpretieren, sondern zu verändern, und die sich über die „kritischen Kritiker“ meinten, lustig machen zu sollen. Hier scheute Adorno sich nicht, Marx selber zu kritisieren. In diesem Punkt sei Marx nicht missverstanden worden, sondern habe einen Denkfehler begangen.
Die dritte Modifikation ergibt sich unmittelbar hieraus, sie ist eine direkte Anwendung der Mahnung zur Vorsicht vor der Praxis. Der Marxismus hatte wie der Faschismus ein grenzenloses Vertrauen in das Agieren der Massen, und die der gesellschaftlichen und technischen Entwicklung angemessene Parole schien der Kollektivismus zu sein. Für Adorno war der Kollektivismus genau das Gegenteil von Befreiung, er war die Unterwerfung unter die absolute Verantwortungslosigkeit: Die Masse oder das Kollektiv setzt das individuelle Gewissen per Wahn außer Kraft.
Neben und vor die ökonomische Analyse der Verhältnisse trat bei Adorno die Analyse der Mechanismen, mit denen die Menschen in die Unterwerfung unter ein sie knechtendes und unglücklich machendes System getrieben werden. Von Ökonomik, auch von marxistischer Ökonomik, verstand Adorno so gut wie nichts. Die wenigen Bemerkungen zu diesem Thema, die sich bei ihm finden, kann man getrost als die eines Dilettanten überschlagen. Was er an die Stelle setzte, war eine soziologische Interpretation von Sigmund Freuds Psychoanalyse.
Adornos Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse sowie sein kompromissloser Individualismus machten ihn für die Frühphase der Rebellion in den 1960er Jahren in Deutschland zum optimalen Propheten. Doch als marxistische Dogmatiker und Anbeter des Massenterrorismus unter Mao in China die Rebellion zu dominieren begannen, wurde Adorno zum Feind. Man griff ihn an, verhöhnte ihn. Adorno sah in der Entwicklung der Rebellion trotz deren Bezeichnung als „Neuer Linker“ den Keim eines neuen Faschismus.
Dialektik der Aufklärung, negative Dialektik und Kritik des Kollektivismus hätte Adorno noch präziser fassen können, wenn er sich je mit Pierre-Joseph Proudhon (Teil 24 dieser Serie) befasst hätte. Wie dort angedeutet, hatte Proudhon bereits in der Geschichte der französischen Revolutionen von 1789 bis Mitte des 19. Jahrhunderts analysiert, wie sich die Ideale in ihr Gegenteil verkehrten. Aber Anarchismus war für einen Marxisten (und Psychoanalytiker) wie Adorno tabu. Es gab eine kurze Renaissance anarchistischer Gedanken in den späten 1960er Jahren, und zwar über den jungen deutsch-französischen Studentenführer Daniel Cohn-Bendit. Aber Cohn-Bendit missdeutete den Anarchismus einzig als ein militantes Instrument, um die marxistische Utopie des Kommunismus schneller und rücksichtsloser in die Praxis umzusetzen. Eine eigene Theorie sprach Cohn-Bendit dem Anarchismus ab, und Proudhon blieb absolut tabu und unbekannt – war doch Proudhon in den Augen der Marxisten nichts weiter als ein reaktionärer Kleinbürger. Wie dem auch sei, diese Renaissance des Anarchismus fand so kurz vor Adornos frühem Tod statt, dass sie bei ihm zu keiner Beschäftigung mit dessen Theorien führen konnte. Adorno sprach vom „Opiat der Kollektivität“, als die studentischen linken Rebellen den Aktionismus für sich gepachtet hatten. Sowohl der nationalsozialistische Volksgenosse als auch der blindwütige linke Aktionist rechnet nach Adorno mit der „Sanktionierung seiner Wut durchs Kollektiv“. „Das Ich muss sich durchstreichen, damit es der Gnadenwahl des Kollektivs teilhaftig werde. Das Gefühl neuer Geborgenheit wird bezahlt mit dem Opfer autonomen Denkens“, kritisierte Adorno, nachdem er festgestellt hatte, der Einzelne kapituliere „vorm Kollektiv, mit dem er sich identifiziert. Ihm wird erspart, seine Ohnmacht zu erkennen“. Heute nennt man es „Stockholm-Syndrom“, nachdem sich 1973 bei einer Entführung in Stockholm die Geiseln mit den Tätern identifiziert hatten und sie zu schützen trachteten. Unabhängig davon, ob es dieses Syndrom als psychische Störung gibt (darum wird eine erbitterte Debatte unter staatsangestellten Psychologen geführt), ist es als gesellschaftliche Realität kaum zu bezweifeln und, wie das Adorno-Zitat beweist, seit Langem bekannt. Auch Adorno hat den Mechanismus nicht als Erster entdeckt; dies war Étienne de La Boétie im 16. Jahrhundert (Teil 17 dieser Serie).
Heute steht Adorno völlig losgelöst von dem, was er je geschrieben hat, im Arsenal des linken Mainstreams und wird hemmungslos dazu genutzt, um gegen Individualismus zu hetzen, als sei Adorno ein Verfechter von staatsterroristischem Kollektivismus gewesen und habe geglaubt, vom Ausbau der Staatsgewalt ginge irgendein befreiender Impuls aus, als habe Adorno auf das staatlich verfügte und organisierte „Wir“-Gefühl irgendeine Hoffnung gesetzt. Diese Inanspruchnahme Adornos für das Gegenteil dessen, wofür er stand, zeigt wieder deutlich, wie begrenzt die Möglichkeit des Philosophen ist, sich verantwortungsbewusst gegen Missbrauch zu schützen: Selbst ein Philosoph eines so hohen Reflexionsniveaus wie Adorno ist nicht geschützt vor Missbrauch.
Adorno gilt als schwierig zu lesender, zu verstehender Autor. Dies ist eine Stigmatisierung, die linke Studenten ab Ende der 1960er Jahre einsetzten, um von der Lektüre abzuschrecken, einer Lektüre, von der sie erwarteten, dass sie die Leser möglicherweise zu subversiven Gedanken hinsichtlich der linken Verherrlichung der Massen und der Praxis verführen könnte. Die „Negative Dialektik“ (1966) richtet sich an Leser, die mit Kant (Teil 22 dieser Serie) und Hegel vertraut sind, das ist richtig; wer über dieses Basiswissen verfügt, für den ist die Lektüre nicht mehr so schwierig. Seine literatur- und musikwissenschaftlichen Schriften sind dem verschlossen, der die jeweils behandelten Autoren und Komponisten nicht kennt. Aber viele seiner wunderbaren Essays sind aus Radiovorträgen hervorgegangen, die zwar anspruchsvoll, aber weder schwierig zu lesen noch schwierig zu verstehen sind.
„Die universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen“, schrieb Adorno in seinem letzten Essay „Resignation“ 1969, als er die Erfahrung gemacht hatte, dass die protestierenden Studenten nicht an Diskussionen, sondern am Zuhauen interessiert waren: Nur wer sich das Denken „nicht verkümmern lässt, der hat nicht resigniert“. Dem Denken, sagte er, „ist schon vor allem besonderen Inhalt die Kraft zum Widerstand und nur mühsam ihr entfremdet worden“. Dies könnte das Motto aller Philosophie sein.
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