Begriffsmissbrauch: Die Ausbeutung findet woanders statt
Ein Arbeitsvertrag lässt sich lösen – ein Austritt aus dem Staat ist jedoch nicht möglich
von Olivier Kessler
Der Begriff „Ausbeutung“ wird von marxistisch inspirierten Gruppierungen und Gewerkschaften gerne missbraucht, um Arbeitgeber zu Sündenböcken zu machen. Das ist deshalb nötig, weil man anschließend auf deren Kosten Sonderprivilegien für die eigene Klientel erwirken möchte. In einem Anstellungsverhältnis wird dabei das Verhalten des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer als „ausbeuterisch“ bezeichnet, wenn aus Betrachtersicht kein „gerechter Lohn“ ausbezahlt wird, wenn die Arbeitszeiten zum Beispiel als „zu lange“ oder die Arbeitsbedingungen als „ungenügend“ wahrgenommen werden.
Es wird mit der Verwendung des Ausbeutungs-Begriffs versucht, eine Macht-Asymmetrie zu suggerieren, obwohl es hier gar keine gibt. In einer Marktwirtschaft wird jeweils zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Anstellungsbedingungen auf Augenhöhe verhandelt. Beide Seiten stimmen einem allfälligen Arbeitsvertrag aus freien Stücken zu und können – unter Einhaltung der vereinbarten Kündigungsfrist – den Vertrag auch jederzeit wieder auflösen, wenn sie mit den Arbeitsbedingungen oder dem Verhalten des anderen nicht mehr zufrieden sind.
Die Beschaffenheit unserer Welt (in der die Güter knapp sind) und unseres Wesens (das nicht ohne Nahrung, Kleider, ein Dach über dem Kopf et cetera überleben kann) zwingt uns, produktiv zu sein und Geld zu verdienen, um uns die lebensnotwendigen Güter leisten zu können. Wir müssen uns nützlich machen und anderen Menschen dienen, damit sie uns für unsere Dienste bezahlen. Das ist ein natürlicher Zwang, an dem wir nichts ändern können, auch wenn manche Träumer fälschlicherweise meinen, dass sich diese Naturgesetze durch irgendwelche magischen staatlichen Tricks aushebeln lassen. Dass es diesen natürlichen Zwang zur Arbeit gibt, ist nicht die Schuld der Arbeitgeber. Und weil Arbeitgeber in einer liberalen Rechtsordnung auch nicht dazu befugt sind, Zwang auszuüben, ist es völlig irreführend, bei einem freiwilligen Kooperationsverhältnis von „Ausbeutung“ zu sprechen. Wenn die Betroffenen dies tatsächlich als eine solche erleben würden und es woanders bessere Arbeitsbedingungen gäbe, dann würden sie wohl kaum bei jenem Arbeitgeber bleiben, von dem sie sich ausgebeutet fühlten. Und falls doch, dann ist es allein ihre Schuld, weil sie untätig bleiben, anstatt ihre Lebensverhältnisse zu verbessern.
Dass in diesem Zusammenhang dennoch von „Ausbeutung“ gesprochen wird, haben wir Karl Marx und seiner längst widerlegten Arbeitswerttheorie zu verdanken. Diese besagt, dass der gesamte Wert eines Produkts von der zur Herstellung aufgewendeten Arbeitszeit herkomme. Der Gewinn, der aus dem Verkauf eines Gutes resultiere, gehöre daher der Arbeiterschaft, die diese Arbeit geleistet habe – und nicht etwa dem Arbeitgeber, der sich ungerechtfertigterweise an den Gewinnen bediene und dadurch die Arbeiter „ausbeute“.
Doch der Wert eines Gutes kann nicht auf die aufgewendete Arbeitszeit zurückgeführt werden. Kunden sind nicht plötzlich bereit, das Zehnfache für einen Aushub zu bezahlen, weil dieser von einem Arbeiter mit einer Schaufel während hundert Stunden von Hand ausgehoben wurde, obwohl man dies auch in zehn Stunden mit einem Bagger geschafft hätte. Maßgebend für den Wert eines Gutes sind Angebot und Nachfrage. Entscheidend sind da unter anderem der subjektive Wert, den ein Individuum einem Gut zumisst, sowie die Rarität des Gutes. Wer beispielsweise während dreier Tage durstig durch eine Wüste irrt und endlich auf einen Wasserverkäufer trifft, ist bereit, für eine Flasche Wasser einen hohen Preis zu bezahlen. Die Zahlungsbereitschaft eines nicht durstigen Mannes in einer gut versorgten Stadt hingegen dürfte wesentlich geringer sein. So etwas wie einen objektiven Wert – wie Marx behauptete – gibt es nicht.
Nichtsdestotrotz berufen sich nach wie vor viele lernunwillige Antikapitalisten auf Marx und sehen in der Tatsache, dass Kapitaleigner einen Profit einfahren, eine große Ungerechtigkeit. Die Gewinne der Kapitaleigner sind allerdings alles andere als ungerechtfertigt. Einerseits aufgrund des unternehmerischen Risikos, andererseits, weil sie zum Erfolg maßgeblich beitragen. Ohne das Kapital wie etwa Werkzeuge und Maschinen, welche die Kapitalgeber zur Verfügung stellen, könnten die Arbeiter die Produkte gar nicht so effizient produzieren. Sie müssten ohne dieses Kapital wesentlich mehr Stunden für die Herstellung aufwenden, weshalb die Entschädigung pro Stunde tiefer ausfallen würde.
Auch das Risiko des unternehmerischen Versagens tragen die Arbeiter nicht persönlich. Die Arbeitnehmer profitieren von den erwarteten Gewinnen des Unternehmens indirekt über ihre Löhne – und das sogar schon im Voraus und auf regelmäßiger Basis, bevor die Profite überhaupt erst erwirtschaftet worden sind. Einen besseren und risikoloseren Deal kann man sich kaum vorstellen. Denn das Risiko des Scheiterns trägt allein der Kapitaleigner, der sein Vermögen aufs Spiel setzt. Ohne investierende „Kapitalisten“, die sich von diesen Investitionen einen Gewinn erhoffen, hätten die Arbeiter die entsprechende Arbeitsstelle gar nicht gehabt.
Es ist also grundlegend falsch, im Hinblick auf freiwillig abgeschlossene Arbeitsverträge von „Ausbeutung“ zu sprechen, zumal der Begriff andeutet, dass die eine Seite unwürdig behandelt wird. Viel eher trifft der Begriff „Ausbeutung“ auf eine andere Beziehung zu, wo er aber erstaunlicherweise praktisch nie verwendet wird: nämlich im Verhältnis des Staats zum Bürger. Denn der Staat versucht im Gegensatz zum Arbeitgeber gar nicht erst, eine freiwillige Übereinkunft mit dem einzelnen Bürger zu treffen, mit der sowohl der Bürger als auch der Staat „happy“ sind. Der Staat interessiert sich gar nicht für die Bedürfnisse des einzelnen Bürgers: Er drückt diesem vielmehr unter Androhung oder Anwendung von Gewalt seinen Willen auf.
Der Staat erlässt in zunehmendem Ausmaß Einheitsregeln, die im Sinne einiger Profiteure sein mögen, jedoch immer jemand anderen ausbeuten. Müsste der Staat mit allen Bürgern einen Vertrag abschließen, wären die meisten heutigen Privilegienregulierungen gar nicht erst denkbar.
Der Staat erhebt zudem Steuern und verwendet die Steuergelder für Zwecke, die für die allermeisten Steuerzahler nicht prioritär und nicht dringend sind. Außerdem zieht er Arbeitskräfte zwangsweise ein und beutet diese somit aus (zum Beispiel im Militärdienst). Müsste der Staat – wie der Arbeitgeber mit dem Arbeitnehmer – einen fairen Konsens finden, damit beide Seiten zufrieden sind, so wäre es undenkbar, sich dermaßen rücksichtslos zu verhalten.
Ein weiterer gewichtiger Unterschied zwischen einem Arbeitsvertrag und dem Bürger-Staat-Verhältnis ist jener, dass ein Bürger die Beziehung mit dem Staat bei Unzufriedenheit nicht ohne Weiteres aufkündigen kann. Natürlich kann er „abhauen, wenn es ihm hier nicht mehr passt“, wie unzufriedenen Bürgern oft empathielos entgegengeworfen wird. Doch es geht dem Einzelnen ja oft nicht darum, dass er sich woanders niederlassen möchte, sondern dass er hier in seiner Heimat, wo er Familie, Beruf, Umfeld und Haus hat, seine Zusammenarbeit mit dem Staat reduzieren oder gar beenden möchte, weil ihm diese Zusammenarbeit nicht zufriedenstellend erscheint.
Gerade im Falle der Eidgenossenschaft ist es besonders zynisch, dass es nicht möglich ist, den Austritt aus dem Staat gültig zu erklären. Denn eine Genossenschaft zeichnet sich per definitionem gerade dadurch aus, dass die Mitgliedschaft freiwillig ist und ein Austrittsrecht ausdrücklich vorgesehen ist. Ironischerweise hält dies auch das Schweizerische Obligationenrecht (OR) in den Artikeln 842–844 fest. Wenn die Schweiz an ihrem Etikett als „Eidgenossenschaft“ festhalten will, sollte sie es zulassen, dass diese Grundsätze auch für sie selbst gelten.
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