20. Februar 2025 06:00

Vergangenheitsverklärung Die guten alten Zeiten

Nur eine Illusion?

von Olivier Kessler

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Bildquelle: Velychko / Shutterstock Nostalgie der Älteren: Die Sehnsucht nach der Vergangenheit

„Früher war alles besser.“ Kein Satz bringt die Politik der Nostalgie besser auf den Punkt. Wer ihn äußert, kann sich der Zustimmung vieler sicher sein. Denn man zapft dabei ein Gefühl an, das bei den meisten von uns verankert ist: das Gefühl der guten alten Zeiten. Doch selten liegen Gefühl und Realität so weit auseinander wie in diesem Fall.

31 Prozent der Briten, 41 Prozent der Amerikaner und 46 Prozent der Franzosen waren (vor der Corona-Krise) der Ansicht, dass das Leben in ihrem Land schlechter sei als vor 50 Jahren. Natürlich gibt es Dinge, die früher tatsächlich besser waren: Es gab vor einigen Jahrzehnten in Westeuropa noch nicht so viele Vorschriften wie heute. Die Steuersätze lagen wesentlich tiefer. Der Föderalismus war noch nicht ganz so stark vom Zentralismus bedroht wie aktuell, weshalb der Wettbewerb der Gebietskörperschaften zur Freude der Bürger noch viel ausgeprägter spielen konnte. Doch meistens wird dieses „Zurück zu den guten alten Zeiten“ nicht von Freiheitsfreunden propagiert, sondern von Gegnern der Offenheit und des Fortschritts.

Besonders in Zeiten des schnellen Wandels ist es wahrscheinlich, dass sich die Menschen besonders nach der Vergangenheit sehnen. Der Romantizismus war eine breite Reaktion auf die Aufklärung, die Industrialisierung, die Verstädterung, die sich vertiefende Arbeitsteilung und die sich ausbreitende anonyme Großgesellschaft. Verherrlicht wurden die Natur, das Heimatland und die Geschichte. „Dieses akute Bewusstsein der Tradition ist ein modernes Phänomen, das ein Wunsch nach dem Brauchtum und der Routine ausdrückt in einer Welt, die vom konstanten Wandel und der Innovation geprägt ist“, schrieb Witold Rybczynski. Regierungen und Intellektuelle machten sich daran, nationale Identitäten zu konstruieren: Volkslieder wurden umgeschrieben, weil sie zuvor zu wenig patriotisch waren. Durch das staatliche Bildungssystem wurden außerdem in vielen Ländern allen eine nationale Sprache aufgedrückt (im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation sprach zum Beispiel nur ein Viertel der Bevölkerung tatsächlich Deutsch). So mancher Machthungrige sah in diesen konstruierten nationalen Identitäten ein Instrument, um einen ideologischen Kollektivismus durchzusetzen: Denn die Idee einer gemeinsamen Geschichte und eines gemeinsamen Schicksals schweißt die Bevölkerung zusammen.

Die Vorstellung oder Einbildung, dass man als Kollektiv eine bestimmte Geschichte oder Erfahrung durchgemacht hat, kann natürlich verbindend wirken. Doch diese Tatsache oder Illusion kann auch von Politikern missbraucht werden, um persönliche Machtinteressen durchzusetzen. Man verspricht dann, an die (verloren gegangene) Größe vergangener Tage anzuknüpfen und diese wiederherzustellen. Vermarktet werden solche Versprechen dann mit Sprüchen wie „Make America Great Again“.

In seinem Podcast „Pessimists Archive“ ging Jason Feifer angesichts des Slogans „Make America Great Again“ der Frage nach, wann denn „die guten alten Zeiten“ gewesen sein sollen, wann Amerika also „great“ war. Die beliebteste Antwort, die er erhielt, war: die 1950er Jahre. Also fragte er Experten dieser Epoche, ob sie der Ansicht sind, ob dies „die gute alte Zeit“ gewesen sei. Dem war nicht so: Die Bürger waren damals sehr besorgt. Besorgt über eine nukleare Eskalation im Kalten Krieg, über Rassenkonflikte und Unruhen in amerikanischen Städten, über die neuen Jugendkulturen und materialistischen, geistlosen und konsumorientierten Studenten. Amerikanische Soziologen warnten davor, dass der aufkommende Individualismus die Familien zerstören würde.

Einige antworteten, die „guten Jahre“ seien die 1920er Jahre gewesen. Doch auch da war nicht alles rosig: Viele Menschen hatten damals Angst, wie sich der technologische Wandel auf die Gesundheit auswirken würde: Alles werde beschleunigt und wir seien ob der zu großen Auswahl (zum Beispiel an Radiosendern und Musikstücken) überfordert. Die steigende Anzahl Scheidungen führte zur Befürchtung, dass die amerikanische Familie bald nicht mehr existieren würde.

Viele denken jedoch noch weiter zurück, wenn sie von der „guten alten Zeit“ reden. Sie haben dabei das Leben vor der industriellen Revolution im Sinne. Doch auch hier sind Zweifel angebracht: Rund die Hälfte der Menschen starb vor Vollendung des 15. Lebensjahrs. Mehr als jeder Vierte von jenen, die überlebten, hatte seinen Vater verloren, bevor er dieses Alter erreichte. Die meisten Familien mussten ihre Kinder wegschicken, um in anderen Haushalten als Dienstboten oder Auszubildende zu arbeiten. Johan Norberg bringt es in seinem Buch „Open“ auf den Punkt: „Wenn Sie glauben, dass wir heute besonders schwierige Probleme, ein schnelleres Lebenstempo, korrupte Herrscher und aufmüpfige Kinder haben, vertrauen Sie nicht auf Ihr Gefühl. Jede Generation glaubte dasselbe. Jede Generation hat ihre Mühen mit dem menschlichen Dasein und der Schwierigkeit von Beziehungen als ein Zeichen dafür gesehen, dass die Dinge seit einer vermeintlich harmonischen Zeit in der Vergangenheit schlimmer geworden sind.“

Warum glauben denn aber viele, es sei einst alles besser gewesen? Als wichtiger Grund führt Norberg die Tatsache an, dass wir die früheren Probleme überlebt hätten. Sie erschienen uns in der Rückschau kleiner, weil wir sie überstanden hätten. Im Gegensatz dazu könnten wir uns aber nie sicher sein, ob wir auch die Probleme von heute und in der Zukunft lösen werden. Jede Generation steht vor dieser Herausforderung. Wir wissen heute zwar: Das Radio hat die Jugend nicht ruiniert. Aber wir können uns nicht sicher sein, ob dies nun das Smartphone schafft. Wir wissen, dass wir Polio und Pocken überstanden haben, doch wir können uns hinsichtlich heutiger Erreger nie sicher sein. Heute ist klar: Uns ist die nukleare Eskalation im Kalten Krieg erspart geblieben. Doch wer garantiert uns, dass dies auch heute und morgen noch der Fall sein wird?

Als weiteren Grund nennt Norberg die Verwechslung von persönlicher und historischer Nostalgie. Studien zeigten, dass viele meinten, die beste historische Zeit sei jene gewesen, in der sie zufälligerweise auch jung waren. Doch oftmals hat das nichts mit den historischen Gegebenheiten zu tun, sondern mit der einfachen Tatsache, dass das eigene Leben besonders aufregend ist, wenn wir noch jung sind. Wir sind noch unbeschwert, weil wir einerseits träumen und planen können, andererseits aber auch von unseren Eltern gestützt und finanziell unterstützt werden. Ständig wartet etwas Neues auf uns und wir erleben viele Dinge zum ersten Mal: der erste Schultag, das erste Konzert, der erste Kuss und so weiter. Die drückende Last der Eigenverantwortung setzt erst später im Leben ein. Wir haben plötzlich unseren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, unsere eigenen Kinder zu ernähren. Das kann anstrengend sein. Der Körper verfällt mit der Zeit, gesundheitliche Probleme kommen hinzu. Wie schön und unbekümmert war doch dagegen die gute alte Zeit.

Wir sollten uns davor hüten, Politikern zuzujubeln, die diese nostalgischen Gefühle in uns triggern und behaupten, heutige Schwierigkeiten ließen sich beheben, indem wir auf den richtigen Pfad zurückkehrten, von dem wir abgekommen seien – weg also vom Kapitalismus, Individualismus, von der Selbstsucht und der Konsumgesellschaft. Vergessen wir nicht: Viele schreckliche Verbrechen in der Geschichte sind gerade auf dem Boden der Nostalgie erwachsen: Nicht zuletzt kam auch Adolf Hitler mit dem Versprechen an die Macht, Deutschland zu „alter Größe“ zurückzuführen.


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