Krieg und Frieden – Teil 2: Abschaffung des Kriegs durch Selbstbestimmung und Sezessionsrecht
Die anarchistische und liberale Alternative
von Stefan Blankertz

Feudale Fürsten und absolutistische Monarchen führten miteinander Kriege um Ressourcen – Land, Bodenschätze und klaglos willig arbeitende Untertanen – an den Köpfen der Bevölkerung vorbei. Europäische Republikaner, Liberale und Demokraten wollten dies im 18. und 19. Jahrhundert beenden und über die nationale Selbstbestimmung der Völker zu Frieden und Freiheit gelangen. Eine spätes Echo dieser Vorstellung findet sich in dem Aufruf des deutschen Anarchisten Gustav Landauer von 1911 „Die Abschaffung des Krieges durch die Selbstbestimmung des Volkes“. Allerdings hatten die Republikaner, Liberalen und Demokraten keine andere Idee zur Verwirklichung als Revolution und Krieg gegen die verbleibenden Fürsten, wenn diese sich nicht vorauseilend in konstitutionelle Monarchen verwandelten. In der Arbeiterbewegung, zu der Landauer gehörte, gab es eine alternative Idee, die ich im Laufe der Serie aufgreifen werde.
Das Konzept „Nation“ bedeutete zunächst eher Gesellschaft, Kultur- und Sprachraum als Staat. Aber in der Umsetzung der Idee nationaler Selbstbestimmung verband sich das Konzept schnell mit dem Staat, dessen militärische und ökonomische Struktur man für die nationale Sache in den Dienst stellen wollte. Diese Verbindung der Idee des Staats mit jener der Nation hatte verhängnisvolle Auswirkungen. Ein Staat hat und braucht territoriale Grenzen. Aber die vorstaatliche Nation verfügt über keine klaren Grenzen. Was ist das konstituierende Prinzip der Nation: Abstammung oder Geschichte oder Sprache oder Kultur oder Religion? Diese Kriterien sind meist nicht kongruent. Zudem: Überall, wo sich Völker berühren, ergeben sich Mischregionen, in denen jede Grenzziehung willkürlich erfolgt. Und was ist mit Völkern, die von anderen Völkern räumlich umschlossen leben? Die Probleme der Nationenbildung sind theoretisch und praktisch unüberwindlich. In der Praxis entschied immer das wechselnde Kriegsglück darüber, wo eine Grenze verläuft.
In seiner Schrift „Liberalismus“ reklamierte Ludwig von Mises für den Liberalismus die Idee, dass es nicht das Selbstbestimmungsrecht von willkürlich konstituierten Nationalstaaten sei, das den Krieg verhindere, sondern das Selbstbestimmungsrecht jeder freiwillig gebildeten Gruppe, zu erklären, ob sie zu einem gewissen Staat gehören, zu einem anderen Staat wechseln oder einen neuen eigenen Staat gründen wolle. Dieses universelle Sezessionsrecht, darüber lässt Ludwig von Mises keinen Zweifel, gilt bis hinunter zu jedem Dorf, zu jedem Straßenzug in einer Stadt. Das Sezessionsrecht ist ihm zufolge nicht gebunden an ein äußeres Kriterium wie gemeinsamer Abstammung oder Kultur oder Sprache oder Religion. Das einzige Kriterium ist der Wille einer beliebigen Gruppe, wie auch immer sie zusammengefunden hat, vorausgesetzt, sie hat es freiwillig getan. Nur so ließen sich, sagt Mises, Kriege, Bürgerkriege und Revolutionen verhindern.
Fatalerweise steht diese in ihrer Konsequenz einzigartige Analyse neben einer Bemerkung, die Mises von seinen Gegnern bis heute angekreidet wird; er sagte nämlich, der italienische Faschismus habe Europa vor der Barbarei bewahrt. 1927, das war, wohlgemerkt, vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten in Deutschland. Mises hegte zu dieser Zeit die Überzeugung, der italienische Faschismus sei gegenüber dem russischen Bolschewismus das kleinere Übel. Er behauptete damit, in Italien sei es um die Frage gegangen, ob Bolschewismus (Kommunismus) oder Faschismus obsiegten. Das stellte eine krasse Fehleinschätzung dar. In Italien spielten die Kommunisten sowjetrussischer Prägung keine Rolle. Mussolinis Faschismus richtete sich überhaupt nicht gegen den Kommunismus, vielmehr in erster Linie gegen den Liberalismus und in zweiter Linie gegen den Anarchismus, der in Italien die Hauptkraft der revolutionären Bewegung war. Mit dem Anarchismus allerdings hat Mises sich nie beschäftigt, er erklärte ihn einfach zu einer radikalen Variante des Kommunismus und grenzte sich rigoros von ihm ab.
Mit seiner Abgrenzung vom Anarchismus verlor Mises einen entscheidenden Bündnispartner. Denn das, was Mises als Liberalismus bezeichnete, war historisch gesehen weitgehend ein Hirngespinst. Der Hauptstrom des Liberalismus verbündete sich stets mit Zentralismus, Militarismus und Kolonialismus. Die wenigen Liberalen, die gegen den Strom schwammen, beriefen sich dazu oft auf den Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon, der die Idee des freiwilligen Föderalismus entwickelt hatte.
Selbstbestimmung, Föderalismus und Sezessionsrecht sind ein gedanklich großer Sprung gegenüber den von Kant genannten Bedingungen des ewigen Friedens, die ich im ersten Teil analysiert habe. Die zweite Bedingung des ewigen Friedens, die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staats, schließt nur den zwischenstaatlichen Frieden ein. Sie besagt nichts hinsichtlich der Möglichkeit eines Bürgerkriegs, wenn die inneren Angelegenheiten eines Staats sich nicht mehr durch friedlichen Interessensausgleich oder durch brutale Unterdrückung regeln lassen. Erst das Sezessionsrecht adressiert auch das Problem des Bürgerkriegs.
Das Prinzip des Sezessionsrechts als Garant des Friedens ist unbestreitbar. Aber wie gelangen wir dorthin? Die Liberalen setzten eher auf Evolution statt Revolution. Das Paradebeispiel einer liberalen Evolution ist England. Doch wie weit das britische Königreich sich in Richtung Liberalismus auch entwickelte, niemals war es bereit, das Sezessionsrecht zu akzeptieren. Der irische Unabhängigkeitskrieg von 1919 bis 1921 hätte durch das Sezessionsrecht vermieden werden können. Die Bürgerkriege in Nordirland hätten sich vermeiden lassen. Aber hätte Irland, wenn auch Nordirland Teil der Republik geworden wäre, den protestantischen Gemeinden erlaubt, bei England zu bleiben (oder einen eigenen Staat zu gründen)? Sicher nicht. Das British Empire hatte niemals die Bereitschaft, den Kolonien das Selbstbestimmungs- und Sezessionsrecht einzuräumen, sie konnten ihre Unabhängigkeit nur durch Krieg erlangen. Das Beispiel einer erfolgreichen Sezession war der Unabhängigkeitskrieg der nordamerikanischen Republiken – ein Krieg mit all seinen schrecklichen Begleiterscheinungen und Folgen, weil die britische Krone die Sezession nicht dulden wollte. Und als die nordamerikanischen Republiken zu einer Union geworden waren, duldete sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht die Sezession der südlichen Bundesstaaten, sondern führte einen brutalen Krieg, um sie zu verhindern.
Die meisten Anarchisten waren sich anders als die Liberalen sicher, dass nur eine Revolution Frieden und Freiheit bringen könne. Aber die reale Revolution bewegte sich stets in den Bahnen der unerbittlichen Logik des Kriegs: Der Gegner meines Gegners ist mein Freund und ich muss mich mit ihm verbünden, auch wenn ich mit ihm nichts zu tun haben möchte, weil unsere Ansichten diametral entgegenstehen. In der Russischen Revolution 1917 verbündeten sich die anarchistischen Bauernrebellen in der Ukraine mit der bolschewistischen Roten Armee gegen die Konterrevolution der zaristischen Weißen. Als die Weißen besiegt waren, zögerte die Rote Armee unter dem Befehl von Leo Trotzki nicht, die Anarchisten auszurotten.
Mit dem Sezessionsrecht haben wir also Prinzip oder Formel des Friedens, aber noch keine Handhabe der Umsetzung. Der Staat ließe sich in seiner Macht nicht anders begrenzen, bemerkt Mises in „Liberalismus“ lakonisch, als durch die einmütige Volksüberzeugung. Das ist wohl wahr, hilft aber kein bisschen weiter. Einmütige Volksüberzeugung? Wie kommt sie zustande? Kann sie zustande kommen, wenn die Herrschenden mit Unterdrückung, Manipulation und Korruption gegen sie arbeiten? Ist es überhaupt denkbar, dass es je zu einer einmütigen Volksüberzeugung kommt? Und wenn es zu einer solchen kommen sollte, wie wird sie sich gegenüber den Herrschenden Geltung verschaffen können anders als durch eine Revolution?
Diese Überlegungen stelle ich nicht an, weil ich behaupte, die Antworten gefunden zu haben; vielmehr sehe ich es als unsere Aufgabe an, nach Antworten zu suchen. Es geht darum, wie Proudhon sagte, der Welt den Frieden (statt den Krieg) zu erklären. Er meinte 1863, es in ihrem Namen sagen zu dürfen: Die Menschheit will keinen Krieg mehr. Leider bis heute eine Fehleinschätzung. Was birgt die Zukunft?
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