Diskriminierung: Minderheitenschutz zu Ende gedacht
Endziel Spaltung?
von Olivier Kessler

Der Gedanke, dass es vulnerable Minderheiten gibt, die es vor der Übermacht einer Mehrheit zu schützen gilt, ist ein urliberaler. Gerade aus diesem Grund betrachteten Liberale die Demokratie stets mit einer gewissen Skepsis, weil eine grenzenlose Demokratie leicht zur Diktatur der Mehrheit ausarten kann. Daher fordern sie klare Schranken des Mehrheitsprinzips in Form von unantastbaren Individualrechten, damit es nicht zur Situation kommt, dass zwei Wölfe und ein Schaf darüber abstimmen, was es zum Abendessen geben wird.
Ein Bewusstsein für die Gefahr der Unterdrückung von Minderheiten ist also gesund und wichtig. Es ist tragisch, dass sich heute immer mehr Interessengruppen diese gesellschaftlich vorhandene Sensibilität zunutze machen und sie zur Durchsetzung von Privilegien missbrauchen. Das wird zunehmend zu einem Problem. Nicht nur drohen die darüber entbrannten politischen Konflikte außer Kontrolle zu geraten. Auch wird die Akzeptanz für den Schutz von Minderheiten durch diese gruppenegoistischen Übertreibungen gefährdet, weil der Minderheitenschutz mehr und mehr mit einer rücksichtslosen Interessendurchsetzung auf Kosten anderer assoziiert wird.
Natürlich war die Geschichte der Menschheit nicht immer gerecht – ganz im Gegenteil. Menschen mit bestimmten identitären Gruppenmerkmalen oder Ansichten wurden immer wieder an verschiedensten Orten der Welt benachteiligt, verfolgt und ermordet. Und das werden sie teilweise auch heute noch. Doch in der westlichen Welt wurden Minderheiten aller Art wohl auch noch nie so tolerant behandelt wie Anfang des 21. Jahrhunderts. Dies ist vor allem der Tatsache zu verdanken, dass sich liberale Ideen seit der Aufklärung gerade in der westlichen Hemisphäre stark verbreiten konnten und universelle Menschenrechte auf große Akzeptanz stießen: Menschenrechte, die allen Menschen unabhängig von ihrer Rasse, ihrer Ethnie, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Religionszugehörigkeit et cetera gleichermaßen zustehen. Damit soll nicht behauptet werden, dass es im Westen keine Attacken auf Menschen aufgrund identitärer Merkmale mehr gibt. Solche kommen zweifelsohne auch heute immer noch vor. Doch unabhängig von der Auftrittshäufigkeit solcher Fälle ist es falsch, einzelnen Personengruppen Sonderrechte zuzugestehen, weil diese immer den Argwohn der anderen auf sich ziehen und Konflikte schüren.
Der Liberalismus bietet hier eine nachhaltig friedliche Lösung an, indem er eben nicht auf Sonderrechte und Privilegien setzt, sondern auf universell geschützte Abwehrrechte, die für alle gleichermaßen gelten. Unabhängig davon, ob jemand ein Mann oder eine Frau ist, ob schwarz oder weiß, ob Christ, Jude, Moslem, Hindu oder Atheist, ob homosexuell, bi- oder transsexuell: Niemand hat ein Recht, einen Angriff auf Leib, Leben und Eigentum irgendeiner anderer Person zu starten. Es spielt dabei auch keine Rolle, ob der Angriff nun wegen der identitären Merkmale geschieht oder nicht. Beides ist gleichermaßen verboten. So ist für alle klar: Jeder Mensch ist unantastbar. Jeder Mensch ist schützenswert. Denn die kleinstvorstellbare Minderheit ist nicht irgendeine Gruppe, sondern das Individuum.
Wenn alle gleichermaßen in ihren Rechten geschützt wären, entstünde auch kein Sozial- und Gruppenneid, weil niemand zu Unrecht privilegiert wäre. Die liberale Lösung ist daher die erfolgversprechendere als die sozialdemokratische, weil letztere darin besteht, willkürlich irgendwelche Gruppen zu erküren, die angeblich Opfer sind und des Schutzes bedürfen. Ein solcher Wettbewerb, der sich nur darum dreht, dass sich alle Gruppen als größtes Opfer darzustellen versuchen, ist destruktiv und kontraproduktiv für die „Opfer“ selbst. Ein solcher Opferwettbewerb lenkt die Aufmerksamkeit der Beteiligten auf die eigenen Nachteile, Schwächen und Unzulänglichkeiten, anstatt sich auf eigene Talente, Stärken und Vorzüge zu fokussieren. Das schwächt das Selbstvertrauen und hindert die Betroffenen daran, über sich selbst hinauszuwachsen. In jeder zwischenmenschlichen Geste – etwa bei der Ablehnung eines Angebots – glaubt man dann eine auf Vorurteile basierende Gemeinheit oder Diskriminierung zu erkennen, was die gesellschaftliche Atmosphäre vergiftet und zur Spaltung der Gesellschaft führt.
Anstatt die allergrößten Opfer X, Y und Z auszuwählen, sie gesetzlich zu privilegieren und alle anderen der X-, Y-, oder Z-Phobie zu beschuldigen, wäre es für alle Beteiligten besser, wenn man sich nicht an oberflächlichen, äußeren Merkmalen orientieren würde, sondern an ihren Potenzialen und Leistungen. Wer zum Beispiel für eine Arbeitsstelle am geeignetsten ist, die nötigen Fähigkeiten und Motivation mitbringt, soll die Stelle bekommen. Für einen Arbeitgeber, der auf gute Resultate aus ist, spielen äußere Merkmale wie das Geschlecht, die Hautfarbe, die sexuelle Orientierung und weitere Unterscheidungsmerkmale keine oder eine untergeordnete Rolle. Arbeitgeber, die nach solchen Äußerlichkeiten diskriminieren, werden vermutlich weniger Profite machen. Sie neigen daher aufgrund wirtschaftlicher Anreize nicht zur Diskriminierung. Das Gleiche sollte für Stellen im öffentlichen Dienst gelten: Nur ein Auswahlverfahren, das auf dem Leistungsprinzip basiert, führt zu gesellschaftlicher Akzeptanz und verhindert, dass sich ein Groll gegen die „geschützten“ und „privilegierten“ Minderheiten entwickelt, der für diese Minderheiten zum Problem werden könnte.
Druck führt zu Gegendruck: Wenn sich gewisse Kreise als Wortführer einer bestimmten Gruppe aufschwingen und Nicht-Gruppenmitglieder mit allerlei unschönen Etiketten versehen, so muss man sich langfristig nicht wundern, wenn die Gruppenmitglieder von der restlichen Gesellschaft zu Sündenböcken abgestempelt und ihrerseits wiederum härter angegangen werden. Die mit Aggressivität eingeforderte „Toleranz“, die unter dem Banner des Minderheitenschutzes vorgetragen wird, verkehrt sich somit in ihr Gegenteil: in Intoleranz und Diskriminierung.
Den immer radikaler auftretenden Wortführern identitärer Gruppen scheint nicht bewusst zu sein, dass sie mit ihren Forderungen nach Sonderprivilegien – wie zum Beispiel einer Quote für ihre Gruppenmitglieder in Führungsetagen – langfristig keine anhaltenden Vorteile für ihre Gruppenmitglieder ergattern können. Denn bei einem solchen gruppenegoistischen Vorgehen dürfte es nicht lange dauern, bis sich weitere Gruppen bilden, die auch von Sonderprivilegien profitieren oder der privilegierten Gruppe eins auswischen wollen. So kann es nicht erstaunen, dass als Reaktion auf die feministische Frauenbewegung, die mit ihren Forderungen heute nicht mehr eine rechtliche Gleichstellung, sondern eine diskriminierende Besserstellung gegenüber den Männern fordert, eine Männerbewegung entstanden ist, die ihrerseits wiederum für ihre Rechte kämpft. Es darf auch nicht verwundern, dass als Reaktion auf die Bewegung „Black Lives Matter“, die für Sonderrechte für Schwarze in den USA einsteht, nun auch eine „White Lives Matter“-Bewegung entstanden ist, die wiederum Privilegien für Weiße fordert. Und so weiter.
Solche Bewegungen, die im Namen des „Minderheitenschutzes“ für Sonderrechte für Minderheiten kämpfen, tragen also lediglich zur gesellschaftlichen Spaltung bei, obwohl doch eigentlich das positive und vertrauensfördernde Aufeinanderzugehen im Zentrum stehen sollte. Quotenregelungen fördern lediglich das Misstrauen: Hat jetzt jemand diesen Job einfach aufgrund des Geschlechtsteils, der sexuellen Orientierung oder aufgrund der Kompetenz? Potenzielle Quotenmenschen werden daher tendenziell stärker gemieden – oder eben: diskriminiert. Quoten fördern die Diskriminierung also in mehrfacher Hinsicht.
Letztlich nützt ein solches Auseinanderdividieren der Gesellschaft einzig denjenigen, die politische Macht erlangen und behalten wollen. Ganz im machiavellistischen Sinne betreiben sie ein Spiel namens „Teile und herrsche“. Je mehr die Bürger untereinander zerstritten sind, desto einfacher lässt es sich regieren.
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