Krieg und Frieden – Teil 16: Das moralische Äquivalent des Kriegs
William James

Der amerikanische Pragmatist und Psychologe William James (1841–1910) stellte in einer Rede vor Studenten 1906 die Forderung nach einem moralischen Äquivalent des Kriegs auf; sie wurde in James’ Todesjahr das erste Mal schriftlich publiziert. In dieser Rede positionierte James sich als Pazifist und ging offenbar davon aus, dass die Menschheit einer sozialistischen Zukunft entgegensehe (ohne genauer darauf einzugehen, was er unter Sozialismus verstanden wissen wollte). Um einen Frieden vorzubereiten und möglich zu machen, müsse man aber zunächst den Krieg verstehen. James nannte vier Motivgruppen für das Kriegführen:
Erstens: Verteidigung gegen Angriff. Doch was ist das Motiv eines Angriffs ? Ganz generell sah James es im Plündern (das heißt die Aneignung fremder Arbeitsleistungen) ; hier führte er vor allem frühe barbarische Gesellschaften an. Darüber hinaus sei es aber auch ein spannender Weg, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Diese Bemerkung führte ihn zu einer zweiten Motivgruppe.
Zweitens: Krieg um des Kriegs willen; hier griff James vor allem auf die antike griechische und römische Geschichte zurück. Krieg sei eine Art Sport und in der Hinsicht zutiefst irrational.
Drittens: Krieg ist eine Schule für Tugenden wie etwa Tapferkeit und Loyalität.
Viertens: Und schließlich gibt es auch Kriege um Ideale, wobei James hier vor allem die Amerikanische Revolution ab 1776 sowie den Amerikanischen Bürgerkrieg ab 1861 nannte.
Die psychische Disposition, zum Kriegführen bereit zu sein, bezeichnete James 1906 als ungebrochen. Vor ein paar Jahren noch hätte ich angemerkt, dass dies nicht mehr durchgängig der Fall sei. Die Antikriegs-Bewegungen in den westlichen Ländern hätten hieran schon einiges geändert. Doch mit dem Überfall von Russland auf die Ukraine 2022 zeigte sich, wie oberflächlich die Änderung in Wirklichkeit war (siehe Teil 15 dieser Serie).
Aus dem Motivmix, der für den Krieg spricht, zog James den Schluss, dass es zwar einerseits notwendig und auch möglich sei, unter zivilisierten Nationen einen rationalen, nicht-kriegerischen Interessenausgleich zu finden (eine Illusion, wie sich leider herausstellte), dies jedoch nicht hinreiche, um einen dauerhaften Frieden zu gewährleisten. Auf den Horror und auf die Irrationalität des Kriegs hinzuweisen, sei völlig nutzlos und ein Fehler von Pazifisten, weil sie nicht miteinrechnen, dass gerade dieser Horror sowie diese Irrationalität die Faszination des Kriegs ausmachen. Solange es kein Äquivalent zum Krieg gebe, würde der Krieg nicht zu vermeiden sein.
Was James als das Äquivalent zum Krieg vorschlug, passt freilich nicht ins pazifistische Konzept. James schlug vor, anstelle des Kriegsdiensts einen ebenfalls zwangsweisen Sozialdienst staatlich einzurichten. Auf solche Weise würden die Tugenden des Kriegs in friedliche Bahnen umzulenken sein. Sollte es tatsächlich so sein, dass der Staat, um ein Äquivalent zum Krieg zu schaffen, seinen Krieg gegen die eigene Bevölkerung intensivieren muss? Das hört sich nicht nach einer sinnvollen Lösung an. James konnte es 1906 noch nicht wissen, aber der Staatssozialismus in der UdSSR und ihren Satelliten sowie in der VR China und in Nordkorea hat eine militärische Organisation der Arbeit und des zivilen Alltags der Bevölkerung konsequent umgesetzt. Aber diese Militarisierung des Alltags war eben kein Äquivalent zum Krieg, sondern ging problemlos einher mit einem exzessiven Militarismus und Drill, mit Aufrüstung und dem akuten Führen von Kriegen.
Hervorzuheben an James’ Ansatz ist, dass er einen völlig anderen als den üblichen Weg einschlägt, sich mit dem Phänomen des Kriegführens zu beschäftigen. Der übliche und bis heute meist eingeschlagene Weg der Analyse von Kriegen fragt nach den wirtschaftlichen oder geopolitischen Interessen, die ein Land zum Kriegführen treiben. Wenn sich zeigt, dass das Interesse des Landes nicht das der Bevölkerung, sondern das der Herrschenden oder eines Teils der Herrschenden ist, ändert dies am Vorgehen bei der Analyse nichts. Die Frage nach den Bedingungen des Friedens orientiert sich an dieser Analyse – ich gehe in der vorliegenden Serie von Kants Bedingung aus, dass die aktuellen Grenzen der Staaten akzeptiert werden müssten und kein Staat sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen einmischen dürfe (Teil 1 der Serie), sowie alternativ und konkurrierend von Ludwig von Mises’ Bedingung, dass jeder Staat das unbedingte Sezessionsrecht einräumen müsse (Teil 2 der Serie).
Statt oder zumindest neben den zu analysierenden Interessen könnte es aber auch eine Neigung in der Bevölkerung geben, entweder Krieg zu führen oder sich diesem zu verweigern. Im Zuge der Diskussion des Vietnamkriegs (Teil 9 der Serie) ist schon deutlich geworden, dass die Haltung der Bevölkerung nicht unerheblich für den Kriegsverlauf und ebenfalls für das Ende eines Kriegs ist. Pointierter gesagt: Eine gegen den Krieg eingestellte Bevölkerung vermag diesen zu beenden. Es kommt natürlich darauf an, ein wie großer Anteil der Bevölkerung aktiv gegen den Krieg ist und sich bereit zeigt, für seine Verweigerung gegebenenfalls Nachteile und Sanktionen in Kauf zu nehmen.
Zugleich hat James’ Argumentation einen untergründig erschreckenden Aspekt. Der naive Pazifismus geht davon aus, dass die Bevölkerung per se gegen den Krieg sei. Natürlich weiß jeder halbwegs gescheite Pazifist, dass am Beginn eines Kriegs oft eine Kriegseuphorie ausbricht. Verkürzt verweise ich auf die Kriegseuphorie in Deutschland am Beginn des Ersten Weltkriegs (der in Teil 17 der Serie Thema werden wird) oder auf ukrainischer Seite nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine (Teil 15 der Serie). Sobald der Krieg voranschreitet und die ersten Söhne in Särgen oder als Verkrüppelte heimkehren, verfliegt diese Euphorie. Die Bevölkerung leidet unter dem Krieg und darum muss sie, so die naive Unterstellung der Pazifisten, gegen den Krieg sein.
William James nun belehrt uns eines Besseren. Der Krieg übt eine Funktion aus, die gesellschaftlich notwendig und in vielen Fällen auch erwünscht ist. Wenn dies sich so verhält, dann muss eine Strategie, Frieden herzustellen und aufrechtzuerhalten, weit mehr leisten, als die vordergründigen Kriegsinteressen beizulegen.
So wertvoll dieser Ansatz auch ist (ihn werde ich in der spezifischen Weise, in der der amerikanische Anarchist Paul Goodman an ihn anknüpfte, in Teil 20 der Serie weiterverfolgen), ist die Lösung, die James präsentierte, wie gesagt alles andere als überzeugend. Eine an militärischen Drill angelehnte Organisation des Alltags scheint die Kriegsbereitschaft der Bevölkerung nicht zu senken, sondern eher zu steigern: Die Bevölkerung ist auf diese Weise an den militärischen Drill und an Opferbereitschaft bestens gewöhnt, der Übergang in den akuten Krieg wird nicht als ein scharfer Bruch oder Einschnitt ins Leben gesehen. Man macht einfach weiter wie bisher, nur die Bedingungen sind verschärft und die Gefahren fallen etwas größer aus.
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