Kaspar Hauser – das Kind von Europa: Adel in Angst vor einem Jungen ohne Namen
Die Suche nach der eigenen Identität
von Manuel Maggio drucken

Wie der Titel bereits verrät, möchte ich mich heute wieder einem geschichtlichen Thema widmen, und zwar der Geschichte von Kaspar Hauser. Wir begeben uns nach Nürnberg, es ist Pfingstmontag und wir schreiben das Jahr 1828. An jenem 26. Mai 1828 wird der damals 16-jährige Junge von einem Schuhmacher entdeckt, der diesem sofort auffällt, da sein Gang etwas unbeholfen und starr wirkt. In seinen Händen hält Kaspar zwei Briefe, einer von seiner angeblichen Mutter, die darin bezeugt, das Kind einem Tagelöhner übergeben zu haben, und ein Brief des Tagelöhners, in dem behauptet wird, er habe Kaspar seit seiner Kindheit aufgezogen und wolle ihn nun in die Obhut des Militärs geben. Kaspar macht auf den Schuhmacher einen seltsamen Eindruck und er spricht immer nur einen Satz, der wie auswendig gelernt wirkt: „Ich möchte ein solcher Reiter werden, wie es mein Vater war.“
Der Schumacher und ein Freund bringen Kaspar daraufhin zu dem Rittmeister, an den der Brief auch adressiert ist, und dort fällt den Verantwortlichen in der Reiterkaserne sofort auf, dass Kaspar anders ist. Sein Zustand wird mit folgenden Worten beschrieben: Er schien fast stumm zu sein, er konnte kaum laufen, er sprach wenig und das Wenige, was er sagen konnte, wirkte wie einstudiert. Insgesamt wies er ein extrem kindliches Verhalten auf und er machte den Eindruck, als hätte er bis auf das Schreiben seines eigenen Namens kein Wissen über die normalsten Dinge und Abläufe des Lebens zu dieser Zeit.
Nachdem auch der Rittmeister nicht weiterwusste, brachte man Kaspar in das Polizeirevier und ließ ihn dort untersuchen. Aufgrund seines Verhaltens, aber auch wegen entsprechender körperlicher Merkmale kam man zu der Überzeugung, dass Kaspar vermutlich die ersten 16 Jahre seines Lebens keinen Kontakt zur Außenwelt gehabt hatte, wohl in einem dunklen Raum eingesperrt gewesen war und sich, so wie es schien, nur von Wasser und Brot ernährt hatte. Schnell sprach sich der Fund dieses seltsamen Jungen herum und die Beamten waren mit der Betreuung von Kaspar, aber auch mit dem Andrang neugieriger Menschen überfordert. So entschied man sich, Kaspar in die Obhut eines Gelehrten zu geben, der ihm das Sprechen und Lesen beibringen sollte. Dieser Betreuer und auch Förderer von Kaspar war Friedrich Daumer. Kaspar war in einem guten Gesundheitszustand und wurde von den Ärzten auch als geistig normal eingestuft, obgleich sein Wissen über die Welt und die eigene Identität das eines Kleinkindes war. Das Wunderkind – oder das Kind von Europa, wie Kaspar damals durch die Presse bekannt gemacht wurde – entwickelte sich enorm schnell. Er lernte in nur wenigen Tagen, wofür andere normalerweise Jahre benötigten, und so dauerte es auch nicht lange, bis er selbst seine Geschichte und damit das furchtbare Verbrechen, das man ihm angetan hatte, bestätigen konnte. Er sei in einem dunklen Raum gefangen gehalten worden, habe niemals einen Menschen gesehen und nur Wasser und Brot bekommen. Erst kurz vor seiner Freilassung sei ein maskierter Mann in seinem Verlies erschienen und habe ihm das Schreiben seines Namens, das Sprechen des einen Satzes und das Gehen beigebracht, bevor man ihn in Nürnberg ausgesetzt habe.
Kaspar entwickelt sich prächtig und ebenso wuchs auch seine Bekanntheit in ganz Europa. Er wurde zur Sensation und es nahm sich seiner sogar Lord Stanhope, ein britischer Adliger, an, der ihn unterstützte. Doch einige Fragen blieben offen, die die Menschen wie kaum ein Thema jemals zuvor beschäftigten: Wer ist dieser Junge, woher kommt er und wer hat ihm dieses Verbrechen angetan? Hier kommt nun eine weitere wichtige Person ins Spiel, der Präsident des bayerischen Appellationsgerichts Anselm von Feuerbach. Er war Jurist und schrieb im Jahr 1832 die einflussreiche Schrift: „Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen“. Feuerbach war davon überzeugt, dass Hauser Opfer einer politischen Intrige und eigentlich der rechtmäßige Thronnachfolger des Hauses Badens sei. Seine Theorie lautete: Kaspar sei der Sohn von Großherzog Karl von Baden und Stephanie de Beauharnais, der angeblich als Kind aus politischen Gründen durch einen toten Säugling ersetzt und versteckt worden sei, um dadurch die Machtübernahme durch eine andere Linie des Hauses Baden zu ermöglichen.
Ebenso mysteriös wie das Auftauchen, das Leben und das Wirken von Kaspar Hauser ist auch sein Tod am 21. Dezember 1833. Ein unbekannter Täter fügte Kaspar bei einem Attentat eine Stichverletzung zu, an der er später verstarb.
Da mich das Thema und auch die Geschichte so sehr faszinierten, habe ich mich umfassend schlaugemacht und diverse Quellen studiert. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass an der Theorie mit der Thronnachfolge etwas dran sein müsse, auch wenn nicht alles bewiesen werden kann. So hatte man zwar 1996 anhand einer Blutprobe von Kaspars Kleidung die Theorie der Abstammung aus dem Hause Badens zunächst widerlegt, musste aber dann sechs Jahre später nach weiteren Gentests einräumen, dass eine Abstammung doch wahrscheinlich sein könne. Auch wenn es mich brennend interessiert, wer Kaspar Hauer wirklich war, ergeben sich für mich noch weitere Fragen, die ich mit Ihnen nun in Form von Gedankenanregungen teilen möchte.
Nehmen wir einmal an, dass die Geschichte stimmt und es sich nicht um einen begabten jungen Hochstapler handelte. Wie kann ein Mensch 16 Jahre ohne soziale Kontakte überleben? Ist es wirklich möglich, sich nur von Wasser und Brot zu ernähren? Wie konnte sich Kaspar so schnell entwickeln, ohne bleibende körperliche und geistige Schäden aus seiner Gefangenschaft davonzutragen? Die Menschen von damals waren nicht nur von der Geschichte Kaspars fasziniert, sondern er hatte auch eine ganz besondere Art an sich, war so rein und unschuldig – eine Seele ohne Prägung, ohne Vorurteile und fern jeden materiellen und weltlichen Einflusses. Kaspar war etwas Besonderes und dies spürte man.
Wenn wir schon bei Besonderheiten sind, möchte ich noch einen weiteren Aspekt ansprechen: Um die Thronfolge zu sichern, musste man den rechtmäßigen Sohn von Großherzog Karl von Baden töten. Wieso hat man, so die Theorie Feuerbachs und einiger anderer, dann den jungen Kaspar gegen ein anderes Kind im Sterbebett ausgetauscht und ihn verschwinden lassen? Wäre das Thema nicht auch mit einem einfachen Kindsmord an Kaspar erledigt gewesen? Welchen Sinn hatte es, diese besondere Seele gefangen zu halten? Falls sie an so etwas wie Wiedergeburt oder Reinkarnation glauben, dann wäre dies ein mögliches Argument. Ich selbst bin mir diesbezüglich nicht sicher, könnte mir eine solche Tragweite aber durchaus vorstellen. Falls dieser Kaspar eine besondere Seele war, dann hätte sich durch die Gefangenschaft verhindern lassen, dass sich diese einfach einen neuen Körper suchen und direkt wieder inkarnieren würde. Der Plan ging zwar nicht ganz auf – daher auch der Mord sechs Jahre nach dem Auftauchen von Kaspar –, aber ich finde diesen Gedanken durchaus sehr spannend.
Aus heutiger Sicht denke ich mir, dass wir vielleicht alle bald selbst zu Kaspar Hausers werden, wenn wir uns weiterhin derart vom echten sozialen Leben abkapseln. Das, was man ihm damals mit einem Verlies angetan hat, errichten wir uns in Form von digitalen Gedankenkäfigen heutzutage selbst – zumindest habe ich diesen Eindruck. Doch es steckt auch ein Fünkchen Hoffnung in seiner Geschichte. Denn ganz egal, wie sehr sie uns auch mit Isolation und Desozialisierung entmenschlichen wollen, steckt doch in jedem von uns ein kleiner Kaspar Hauser, der sich auch nach 16 Jahren in Dunkelheit und Einsamkeit zu einem Menschen voller positiver Energie, Liebe und Schaffenskraft entwickeln kann.
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