Weltliteratur: Die sozialistische Wurzel des Nationalsozialismus
80 Jahre nach „The Road to Serfdom“ (Teil 13)
von Carlos A. Gebauer (Pausiert)
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Die vielleicht giftigste Kommunikationsstörung im Diskurs zwischen Liberalen und Sozialisten hat ihre Ursache in einer hartnäckigen argumentativen Überkreuzung: Sozialisten streben nach dem Ziel einer Verbesserung der Lebensumstände aller und glauben, dies mit dem Mittel einer zentralisierten Organisationsoptimierung erreichen zu können. Liberale hingegen sind überzeugt, dass eine solche Organisation in Anbetracht der hyperkomplexen Realität unserer Welt schlechterdings nicht – oder allenfalls um den inakzeptablen Preis eines Verlustes aller persönlichen Lebensgestaltung – erreicht werden kann. Den damit von liberaler Seite erhobenen Einwand gegen die zumutbare Funktionsfähigkeit des sozialistischen Mittels missdeutet die Gegenseite als amoralischen Widerstand gegen das angestrebte edle Ziel. Die politische Interaktion aus diesem Dilemma zu befreien, erweist sich wegen der erheblichen Emotionalität des Themas konsequent als schwierig. Denn den einen ist das verfolgte gesamtgesellschaftliche Ziel überragend bedeutsam und den anderen der Schutz des Individuums gegen die Mittel der Zielerreichung. Das damit systematisch grob umrissene Unverständnis zwischen beiden Weltsichten hat – wie Hayek historisch-analytisch erläutert – weitreichende machtpolitische Konsequenzen.
Dies vorausgeschickt, muss die aus der Kapitelüberschrift sprechende These vom Sozialismus als der Ursache des Nationalsozialismus auch heute sicher manchem überzeugten Sozialisten a prima vista als ebenso vorwurfsvoller wie haltloser Affront erscheinen. Denn aus aktueller Sicht – achtzig Jahre nach der Erstveröffentlichung des Buches – wähnen sich Sozialisten in aller Regel noch immer als progressive „Linke“, deren Weltsicht der jedes „Rechten“ (wen immer sie zur eigenen Selbstvergewisserung unter diesen Begriff fassen) gerade exakt entgegengesetzt sei. Doch Hayek erläutert die beklemmend abweichende Lage überzeugend: „Es wird allgemein der Fehler begangen, den Nationalsozialismus als eine bloße Auflehnung gegen die Vernunft anzusehen. Träfe dies zu, so wäre die Bewegung viel weniger gefährlich, als sie es tatsächlich ist. Aber nichts könnte falscher und irreführender sein. Die nationalsozialistischen Lehren stellen den Höhepunkt einer langen geistigen Entwicklung dar. Die Kraft, die diese Gedanken zur Macht brachte, kam aus dem sozialistischen Lager. Es war der Zusammenschluss der antikapitalistischen Kräfte der Rechten und der Linken und die Verschmelzung des radikalen mit dem konservativen Sozialismus, die aus Deutschland alles, was liberal war, vertrieben.“
Im Wesentlichen sind es in der anschließenden Darstellung Hayeks vier Köpfe, an deren Beispiel er die fatale Entwicklung zur Eliminierung des Individualismus bis hin in den totalitären deutschen Nationalsozialismus nachzeichnet: Werner Sombart, Johann Plenge, Paul Lensch und Oswald Spengler.
Werner Sombart (1863–1941) war es, der den Krieg zwischen Deutschland und England „als den unvermeidlichen Konflikt zwischen der händlerischen Zivilisation Englands und der heroischen Kultur Deutschlands“ beschwor. Für Sombart war die Vorstellung untragbar, der Einzelne könne in einer Gesellschaft danach streben, sein Glück zu finden. Die einzig zutreffende Rolle des Menschen sei im Gegenteil die, im Staatsganzen seine Erfüllung zu finden: „Der Staat ist [für Sombart] eine Volksgemeinschaft, in der der Einzelne keine Rechte, sondern nur Pflichten hat.“ Während der durch westliche Ideale geprägte Bürger sich als Individuum sehe, das mit anderen gleichberechtigten Menschen in freiwillige Austauschverhältnisse zur wechselseitigen Hilfe bei der Überwindung von Knappheiten trete, suche die kollektivistische Seele des Deutschen ihre Befriedigung nicht in einer persönlichen Komfortsteigerung, sondern in der – notfalls kriegerischen – „Vollendung der heldischen Weltanschauung“. Den „Kundenfang“ umtriebiger „Krämerseelen“ hielt Sombart jedenfalls für unchristlich. Es fällt nicht schwer, die Kontinuität derartigen Denkens in Sätzen wie dem seit 2020 oft zitierten „You will own nothing – and you will be happy“ wiederzuerkennen. Die individuelle Sorge um die eigene Lebensorganisation zur Bequemlichkeit vertrauensvoll fremden Kräften zu übertragen, ist augenscheinlich eine anthropologische Konstante der besonderen Art.
Auch Johann Plenge (1874–1963) – der Doktorvater des späteren SPD-Parteivorsitzenden Kurt Schumacher – war ein „ebenso großer Marxkenner wie Sombart. In der Organisation erblickte er, wie alle Sozialisten, das Wesen des Sozialismus.“ Den „wirtschaftlichen Weltkrieg“ hielt Plenge dabei für die dritte große Epoche der Neuzeit: „Es kommt ihm gleich große Bedeutung zu wie der Reformation und der bürgerlichen Freiheitsrevolution.“ Entwicklungsgeschichtlich konnte Plenge daher die durch den Ersten Weltkrieg ab 1914 ausgelöste staatlich konzertierte Transformation aller Wirtschaftstätigkeiten in eine monistische Kriegswirtschaft nur begrüßen. Alles gesellschaftlich Produktive wurde jetzt einer vereinheitlichten Machtstruktur untergeordnet: „Staat und Volkswirtschaft sind zu einer neuen Einheit zusammengeschlossen“, resümierte er 1916. In der Konsequenz dieser Weltsicht konnte der Einzelne auch nicht mehr frei sein in seinen Entscheidungen, wo und was er arbeiten wolle – in Plenges Worten: „Es wird höchste Zeit, sich darüber klarzuwerden, dass der Sozialismus Machtpolitik sein muss, da er die Organisation sein muss.“ „Diese Ideale“, notiert Hayek, „waren besonders populär in gewissen Kreisen deutscher Wissenschaftler und Ingenieure, die nach der von einer Zentrale aus geplanten Organisation des gesamten Lebens verlangten.“
Es braucht erkennbar keine besonders feinen Ohren, um aus diesen Sätzen schon Hitlers nahendes Diktum herauszuhören: „Du bist nichts, dein Volk ist alles“. Aber auch die in den Worten Plenges aufscheinende Melange aus Macht und Organisation macht nachdenklich: Was, wenn eine Gesellschaft erst einmal voll „digitalisiert“ ist, jeder Schritt und jede Handlung virtuell an eine Steuerungszentrale gemeldet, von ihr mit politisch vorgegebenen Werten abgeglichen und zu Kontrollbefehlen umgewandelt werden kann? Was, wenn die Menschheit von Maschinenbauern wie eine Industrieanlage in Module getrennt und nach mathematischen Parametern gesteuert wird?
Der sozialdemokratische Hochschullehrer Paul Lensch (1873–1926) beschrieb den Unterschied zwischen dem sozialistischen Freiheitsideal und der englischen Weltanschauung aus den Konsequenzen der Bismarck’schen Schutzzolleinführung des Jahres 1879. Die daraus resultierende Konzentration und Kartellierung der gesamten deutschen Industrie habe sie auf eine völlig neue Entwicklungsstufe gehoben, die dem schwachen Staat des englischen Individualismus für immer überlegen sein werde: „So gesehen glich der Krieg der Entente gegen Deutschland dem Versuch des vorkapitalistischen Kleinbürgertums, den Niedergang des eigenen Standes zu verhindern.“ Und weiter zitiert Hayek den marxistischen Nationalökonomen: „Zu diesen unbewusst mit englischen Maßstäben arbeitenden Schichten gehört nun das gesamte gebildete deutsche Bürgertum. Seine politischen Begriffe von ‚Freiheit‘ und ‚Bürgerrecht‘ entstammen durchweg der individualistischen Weltauffassung. Worauf es jetzt ankommt, ist, sich von diesen überkommenen politischen Denkformen freizumachen und einer neuen Auffassung von Staat und Gesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen.“
Hayek fasst zusammen: „Plenge und Lensch haben nacheinander den unmittelbaren Vorläufern des Nationalsozialismus, vor allem Oswald Spenger (1880–1936), die Leitgedanken geliefert. Einige Beispiele für seine Argumentation werden genügen: ‚Altpreußischer Geist und sozialistische Gesinnung, die sich heute mit dem Hasse von Brüdern hassen, sind ein und dasselbe.‘ ‚Der deutsche, genauer preußische Instinkt war: die Macht gehört dem Ganzen. Jeder erhält seinen Platz. Dies ist, seit dem 18. Jahrhundert, autoritativer Sozialismus. Verächtlich ist auf deutschem Boden alleine der Liberalismus.‘ ‚Das englische Volk ist nach dem Unterschied von reich und arm, das preußische nach dem von Befehl und Gehorsam aufgebaut.‘ Von hier aus war es für [Artur] Moeller van den Bruck nur noch ein Schritt bis zur Verkündung, dass der Weltkrieg ein Krieg zwischen Liberalismus und Sozialismus sei. Nach Moeller van den Bruck sollte das ‚Dritte Reich‘ den Deutschen einen Sozialismus geben, der ihrer Natur angepasst und von den liberalen Ideen des Westens nicht verunreinigt war.“
In der völligen Gleichschaltung aller ökonomischen Aktivitäten und ihrer Verschmelzung mit staatlichem Handeln unter politischen Befehlen vermochten die Nationalsozialisten zuletzt das Individuum samt seiner personalen Menschenwürde zu einer gänzlich irrelevanten Größe einzuschrumpfen. Der sozialistische Organisationsanspruch war mit dem preußischen Ideal des Gehorsams zu einer nationalen Einheit verwoben worden, der ein einzelner Mensch nicht mehr entkommen konnte: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ stand nun sogar auf Münzen geprägt.
Welche weitreichenden Konsequenzen just diese Gedanken (den aktuell Handelnden sicher meist unerkannt) bis weit in die Zukunft der arbeitsgerichtlichen Wirklichkeit haben, beschrieb der deutsche Rechtslehrer Bernd Rüthers 1998 sehr eindrücklich in einem Beitrag für die „Neue Juristische Wochenschrift“: Die im deutschen Arbeitsrecht bis in die Gegenwart gesetzesfremd übersteigerte Bestandkraft von Arbeitsverträgen durch Erschwerung ihrer Kündbarkeit lässt sich – wie Rüthers quellenkundlich im Detail nachzeichnet – normengenetisch kausal auf das im Nationalsozialismus wurzelnde Verständnis des Arbeitsverhältnisses als „überindividuelles, auf Gesamtinteressen ausgerichtetes Gesellschaftsverhältnis“ zurückführen. Statt eine Kündigung von Rechts wegen auch im Arbeitsrecht überall dort zu respektieren, wo den Beteiligten die weitere Zusammenarbeit unzumutbar sei, werde aber gefragt, ob die Wiederherstellung verlorener Loyalität nicht doch irgendwie wieder zu erwarten sei. Der dahingehende Vorschlag des einflussreichen Bonner Arbeitsrechtlers Wilhelm Herschel aus dem Jahre 1958 wirkte – Rüthers rechtlicher Analyse nach – noch 1998 fort, ging jedoch rechtspublizistisch im Kern auf eine Arbeit des NS-Rechtserneuerers Wolfgang Siebert zurück, der im Jahre 1935 geschrieben hatte: „Vom Gemeinschaftsdenken aus ist das Arbeitsverhältnis ein Gemeinschaftsverhältnis, ein personenrechtlicher Tatbestand eigener Art.“ Deswegen solle ein Arbeitsvertrag in der sozialistischen Volksordnung prinzipiell ebenso unauflöslich sein wie die gleichermaßen personenrechtliche Ehe.
Inwieweit die gesellschaftspsychologische Affinität zum Kollektiv hierzulande (auch eine Generation nach dem Zusammenbruch des Ostblocks mit seinen Massenaufmärschen) zu Beginn des Jahres 2024 wieder private und öffentliche Arbeitgeber motiviert haben mag, ihre Beschäftigten zur Teilnahme an bestimmten politischen Demonstrationen aufzurufen, wird man kaum kausal beschreiben können. Die Versuchung, über die arbeitsrechtliche Verbindung hinaus auch weltanschaulich auf Mitarbeiter richtungsweisend einwirken zu wollen, ist jedoch aktuell wieder an vielen Stellen auffällig. Und sie passt zu dem in Deutschland über Jahrzehnte hinweg historisch verdichteten Antiindividualismus, der sich nicht nur im Allgemeinen von den „englischen“, sondern namentlich in der Gesetzgebung auch von der Axiomatik des römisch-rechtlichen Individualismus absondern wollte. So sahen die Schöpfer der Bürgerlichen Gesetzbuches von 1896 beispielsweise davon ab, im dogmatischen Dissens zwischen Otto von Gierke und Friedrich Carl von Savigny über die deutschrechtlich reale oder römisch-rechtlich nur fiktive Existenz einer juristischen Person allzu deutlich Stellung zu beziehen, wie die zurückhaltende Formulierung des 26. Paragraphen dieses Gesetzes bis heute belegt. Auf dem Tiefpunkt der nationalsozialistischen Menschenverachtung sollte dem Einzelnen dann sogar strafprozessual verwehrt bleiben, sich auf die schützende Geltung von rechtsklaren Regeln gegen staatliche Übermacht berufen zu dürfen: An die Stelle der Rechtssicherheit des römischen „Keine Strafe ohne Gesetz“ trat dort das fatale Diktum „Kein Verbrechen ohne Sühne“.
Der Geringschätzung aller individuellen Lebensgestaltung nach innen entsprach die Überheblichkeit des staatlichen Ganzen nach außen. An diesem Wesen, glaubte man schon vor dem Ausbruch des Nationalsozialismus, solle die ganze übrige – von den befehlsgebenden deutschen Organisatoren für unzureichend und rückständig gehaltene – Welt genesen. Jeden Widerstand galt es also in dieser Weltsicht gewaltsam zu brechen. Deswegen musste das Ganze auch total durchorganisiert sein. Genau diesem Totalitären widmet Hayek daher sein nächstes Kapitel.
(wird fortgesetzt)
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