Aufgeben war keine Option: Der menschliche Weg kann Türen öffnen
Staat hin oder her – fragen kostet nichts!
von Manuel Maggio
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Mit meiner heutigen Kolumne möchte ich Mut machen, sich Regeln und festgefahrenen Verwaltungsstrukturen zu widersetzen. Ganz nach dem Motto: Einfach mal probieren – was hat man schon zu verlieren?
Genau dann, wenn einen die Bürokratie oder die Verordnungen so weit in die Enge treiben, bis man mit dem Rücken an der Wand in einer Sackgasse steht, kann es helfen, es über den menschlichen Weg zu probieren. Egal, welcher Sachbearbeiter, welcher Richter oder Gläubiger – wenn der Schriftverkehr keine Option mehr bietet, versuchen Sie es mit einem persönlichen Gespräch von Mensch zu Mensch. Denn überall dort, wo sich Menschen aufrichtig begegnen, öffnen sich mit etwas Glück auch Türen. Keine Sorge – ich werde nicht länger um den heißen Brei tanzen und gleich von meinen eigenen Erfahrungen berichten.
Wir schreiben das Jahr 2003. Ich arbeite als angestellter Chemikant in einem kleinen Pharmaunternehmen. Aufgrund eines Gehörsturzes bin ich nicht mehr in der Lage, meine Arbeit in der Produktion auszuführen, und werde für insgesamt sechs Monate krankgeschrieben. Auslöser wird eine Überbelastung gewesen sein, gepaart mit einer psychischen Belastung aufgrund der Tatsache, damit konfrontiert zu sein, womöglich mein Leben mit dieser Arbeit verbringen zu müssen. Zu diesem Zeitpunkt war mir klar, dass ich damit nicht meine Berufung gefunden hatte und in dieser Branche eigentlich komplett falsch bin. Insofern sage ich heute, dass mich der Gehörsturz damals herausgeholt hat; ansonsten würde ich wahrscheinlich heute noch im Reinraum Medikamente herstellen. Nun aber zurück zu meinem Krankenstand, in dem sich mit der Zeit eine Überempfindlichkeit des Gehörs aufgebaut hatte. Mir war es somit unmöglich, wieder umgeben von lauten Maschinen zu arbeiten. Ein Arzt warnte mich zudem, dass ich, wenn ich nicht aufpassen würde, mit 40 taub wäre. Für einen Musiker wie mich war das natürlich keine Option. Schnell stand somit fest, dass ich in den alten Job nicht zurückkann. Dort bin ich krank geworden, dort werde ich sicher nicht gesund.
Gemeinsam mit meinem damaligen Arbeitgeber, einem Arzt und einem Ansprechpartner bei der Krankenkasse wurde mir dann ein Aufhebungsvertrag empfohlen, mit dem eine durch das Arbeitsamt finanzierte Umschulung im Raum stand. Genauer gesagt: eine sogenannte Reha-Umschulung, finanziert durch das Steuersäckchen. Die Vermittlerin beim Arbeitsamt hatte dann auch schnell die entsprechenden Unterlagen angefordert, und ich war zum Glück in der Lage, den ganzen Papierkram einzureichen. Nach den Formalitäten, wozu auch das Auflösen meines vorher noch bestandenen Arbeitsverhältnisses zählte, ging es im Bewilligungsverfahren eines solchen Bildungsgutscheines noch um die medizinische Komponente. Anfangs dachte ich, dass dies sicher nicht so schwer sein sollte, hatte ich doch bereits einige Krankenhausaufenthalte, eine Cortison-Infusionstherapie und diverse Untersuchungen hinter mir. So reichte ich damals ein Attest nach dem anderen beim Amtsarzt ein und befreite einen Arzt nach dem anderen von der Schweigepflicht; und das immer im Glauben, dass dies nur noch Formalitäten seien.
Der Prozess sah damals folgendermaßen aus: Ein Amtsarzt bekommt diese ganzen Unterlagen zum Krankheitsfall und entscheidet dann, ob eine Maßnahme bewilligt wird, ohne den betroffenen Menschen auch nur einmal zu Gesicht bekommen zu haben. Bei der Fülle an angeforderten und von mir auch eingereichten Unterlagen war ich mir damals ziemlich sicher, eine solche Umschulung bald bewilligt zu bekommen. Ich hatte mir auch schon etwas Passendes herausgesucht und mein Weg zum Veranstaltungskaufmann war zum Greifen nahe.
Der Schock saß tief, als ich eines Tages einen Brief vom Arbeitsamt bekam, in dem auf einer halben DIN-A4-Seite begründet wurde, wieso mir keine Umschulung gewährt werde und ich mit meiner Ausbildung als Chemikant einen Arbeitsplatz, bei dem ich mich vom Lärm fernhalten könne, finden solle. In meinen eigenen Worten zusammengefasst stand da, dass man meine Schädigung nicht direkt nachweisen könne und ich mich daher nicht so anstellen solle.
Für mich brach damals eine kleine Welt zusammen: den einen Job und meine Gesundheit verloren und alles auf eine Karte gesetzt und dann wird man mit so einem Wisch abgewiesen. Ich hatte genau zwei Optionen, denn ein Widerspruch auf offiziellem Wege stand niemals zur Debatte. Entweder nehme ich das hin und fange an zu heulen oder ich fahre jetzt zum Arbeitsamt und regle das auf eine andere Art und Weise. Auf dem Brief des Amtsarztes stand auch eine Zimmernummer, sodass ich ein konkretes Ziel hatte. Mit dem Brief in der Hand stand ich dann vor dem Gebäude des Arbeitsamtes und mir wurde schnell klar: Ich habe keinen Zutritt in den Gebäudeteil, in dem der Amtsarzt sein Büro hat. Aber die großen Schilder an der Türe mit der Aufschrift „Zutritt nur für Mitarbeiter“ konnten mich damals nicht stoppen. Was hatte ich schon zu verlieren? Nichts, so sieht es aus! Ich schlich mich also durch die Gänge, bis ich die Zimmernummer des Arztes vor mir sah, nahm den Brief in die linke Hand und klopfte mit der rechten Hand an die Türe. Mein Herz raste und ich hatte bestimmt auch einen kleinen Adrenalinschub, doch da hörte ich es bereits klar und deutlich aus dem Büro „Ja, bitte?“, und ohne zu zögern öffnete ich die Türe und hielt den Brief in der Hand neben meinem Kopf hoch. Noch im Türrahmen stehend, sagte ich dann: „Ich bin der Mensch, dem Sie mit diesem Brief die Zukunft versaut haben, darf ich Sie um fünf Minuten Ihrer Zeit bitten?“ Was will man da auch noch sagen, also bat er mich in sein Büro und nahm mir den Brief aus der Hand. Eventuell hatte ich auch etwas Tränen in den Augen, als ich ihm dann sagte, er solle mir einen Arzt nennen, zu dem ich gehen solle, oder eine Maschine, an die ich mich anschließen lassen solle, damit man mir glaube.
Der Herr war die ganze Zeit über nett, obwohl etwas irritiert und sichtlich überrascht, aber nach einem kurzen Gespräch mit mir sagte er, ich solle kurz warten, und nahm dabei das Telefon in die Hand. Rückwirkend betrachtet wird am anderen Ende der Leitung meine Sachbearbeiterin vom Arbeitsamt ein Gebäude weiter gewesen sein. In wenigen Sätzen erklärte er der Dame am Telefon, in seinem Attest stehe im letzten Absatz, man solle mich von lauten Arbeitsplätzen fernhalten. Diese Aussage solle bitte als Grundlage für eine Bewilligung der Umschulung verwendet werden. Direkt nach meinem guerillaartigen Eindringen in das Verwaltungsgebäude schickte mich der Amtsarzt zu meiner Sachbearbeiterin, die bereits die Unterlagen für die Bewilligung vorbereitet hatte. Irgendwie bemerkenswert war, wie viel Handlungsspielraum in meinem Fall vorhanden war, da nicht einmal das Attest neu ausgestellt wurde.
Was lernen wir aus der Geschichte? Es hätte keinen offiziellen Weg gegeben, der mein Handeln ermöglicht hätte. Ich habe keine Gesetze gebrochen, aber ich habe mich nicht an die vorgeschriebenen Abläufe gehalten. Mein Ansatz war der direkte Draht zum Menschen hinter der Entscheidung; ganz egal, welche Hürden die Bürokratie auch aufstellen möge.
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