27. April 2024 10:00

Ökonomie Friedman und das Rätsel des Oralverkehrs

Ökonomischer Imperialismus im Liebesleben

von Karl-Friedrich Israel (Pausiert)

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Bildquelle: Kelly Galbraith / Wikimedia Giacomo Casanova (1725–1798), Synonym für Lust und Liebe: Die Schilderungen seiner amourösen Abenteuer sind detailliert – doch von Oralverkehr ist nie die Rede

Der Ökonomie wird manchmal wissenschaftlicher Imperialismus vorgeworfen. Es heißt, man würde ökonomische Konzepte auf Sachverhalte anwenden, die mit Ökonomie gar nichts zu tun hätten. Der größte unter den ökonomischen Imperialisten war Gary Becker. Er entwickelte zum Beispiel eine ökonomische Theorie der Familie, in der er die historische Entwicklung von Eheschließungen, Scheidungen und Fertilitätsraten nach den Marktkriterien von Angebot, Nachfrage und Opportunitätskosten analysierte.

Es stimmt sicherlich, dass nicht alle Aspekte des Soziallebens einer strengen ökonomischen Rationalität folgen. Dennoch lassen sich fast überall auch ökonomische Dimensionen erkennen. Genau deshalb ist der ökonomische Imperialismus so beständig. Es scheint etwas dran zu sein – auch wenn wir es manchmal nicht wahrhaben wollen, dass zum Beispiel die Häufigkeit von Eheschließungen und Scheidungen mit materiellem Wohlstand und Opportunitätskosten zu tun hat. 

Zuweilen ergeben sich aber auch Widersprüche und Rätsel, die man mit ökonomischen Denkansätzen nicht ohne Weiteres aus dem Weg räumen kann. David Friedman, Sohn des berühmten Nobelpreisträgers Milton Friedman, der ebenso wie Gary Becker ein Anhänger der Chicagoer Schule ist, hat vor einem Monat auf ein ebensolches Rätsel hingewiesen. In einem Blogpost schrieb Friedman über das Rätsel des Oralverkehrs: „Mein Bild des Sexualverhaltens in der Gegenwart und in der Vergangenheit basiert auf einer Reihe von leicht zu beobachtenden Quellen – freie Online-Pornos für die Gegenwart, Schriftstücke, sowohl pornografische als auch nicht pornografische, für die Vergangenheit. Auf der Grundlage dieser unvollkommenen und vielleicht irreführenden Beweise ist das Muster, wann Oralsex in unserer Gesellschaft in den letzten Jahrhunderten üblich war oder nicht, das Gegenteil von dem, was man aus einfachen wirtschaftlichen Gründen erwarten würde.“

Friedman klammert bewusst die Antike und einige nichtwestliche Kulturen aus und konzentriert sich ausschließlich auf die westliche Welt in den letzten drei bis vier Jahrhunderten. Hier erscheint es so, als ob Oralverkehr etwa im 18. Jahrhundert deutlich weniger üblich gewesen sei als in der Gegenwart. Friedman bezieht sich etwa auf die Memoiren von Casanova, die ein recht detailliertes Bild der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts zeichnen, inklusive ihrer Sexualpraktiken. Es wird etwa von Inzest und Homosexualität geschrieben. Lesbische Liebesbeziehungen zwischen unverheirateten Frauen seien üblich gewesen. An keiner Stelle aber ist je die Rede von Oralverkehr, weder Cunnilingus noch Fellatio. Friedman verweist außerdem auf den erotischen Briefroman „Fanny Hill“ des Engländers John Cleland, der bereits 1749 in London erschien und einen großen Skandal auslöste. Er darf interessanterweise bis heute in Australien nicht verkauft werden. Auch in „Fanny Hill“ findet sich keine Erwähnung von Oralverkehr.      

Demgegenüber scheint Oralverkehr heutzutage völlige Normalität zu sein. Friedman stellt fest: „In modernen Online-Pornos werden sowohl Fellatio als auch Cunnilingus als normale Bestandteile des Vorspiels behandelt, die routinemäßig zwischen erotischem Küssen und vaginalem Geschlechtsverkehr liegen.“

Noch im Jahre 1976 fand der sogenannte Hite-Report, dass amerikanische Frauen eine stark ablehnende Haltung gegenüber der Ausübung von Fellatio hatten. Irgendwann danach hat sich die Haltung gewandelt. Ein Online-Artikel über die Geschichte der Fellatio, den Friedman ausfindig machen konnte, stellt fest: „Heute ist der Akt eher so etwas wie das Brot vor dem Essen: bemerkenswert nur, wenn es nicht da ist.“

Im Online-Magazin „Salon“ schreibt Annie Auguste: „Jüngsten Presseberichten zufolge praktizieren die Amerikaner Oralsex in einem alarmierend jungen Alter – und mit zunehmender Nonchalance. (Anmerkung: Oralsex bezieht sich hier ausschließlich auf Fellatio.) Oralsex geht dem Geschlechtsverkehr voraus und ersetzt ihn oft, weil er als unverbindlich, schnell und sicher gilt. Für einige Jugendliche ist es eine coole Sache, für andere ein billiger Nervenkitzel. Da sie in einer Kultur aufgewachsen sind, in der Schnelligkeit geschätzt wird, ist es nicht verwunderlich, dass Jugendliche durch Oralsex sofortige Befriedigung suchen … Der Blowjob ist im Grunde genommen der neue Joystick der Teenager-Sexualität. Kurz gesagt, wenn man den Soziologen und Kulturkennern von heute glauben darf, ist Oralsex alltäglich geworden.“

Früher sei es alles ganz anders gewesen, setzt Annie Auguste fort: „Die zunehmende Banalität des Blowjobs ist verblüffend. Als ich ein Teenager war, in den geschmacklosen, von der Disco geprägten 70er Jahren, war Fellatio etwas, in das man langsam hineinwuchs. In den sexuellen Metaphern meiner Generation, die ihre Wurzeln im großen amerikanischen Baseball-Sport haben, lag Fellatio irgendwo hinter der Homebase, weit draußen in den weiten Ebenen des Outfields.“

Das Rätsel, das sich aus diesem Muster ergibt, ist für den Ökonomen, der an Opportunitätskosten denkt, offensichtlich. Oralverkehr ist ein geeignetes Substitut für Vaginalverkehr, wenn man das Risiko der Schwangerschaft umgehen will. Man würde deshalb erwarten, dass Oralverkehr dort eine größere Rolle spielt, wo es an zuverlässigen Verhütungsmitteln mangelt. Um es in den blumigen Worten der Ökonomie zu sagen: Sichere Verhütungsmittel verringern die Opportunitätskosten von Vaginalverkehr und deshalb die Anreize, auf Substitute auszuweichen. Historisch beobachten wir zumindest für die vergangenen vier Jahrhunderte, laut Friedman, das Gegenteil. Er schreibt: „Mit der Verfügbarkeit guter Verhütungsmittel stieg auch die Akzeptanz und Praxis dessen, was in der Vergangenheit wohl der beste Ersatz für Verhütungsmittel war, deutlich an.“

So ein Rätsel ist für Ökonomen wie Friedman eine willkommene Einladung, um über mögliche Erklärungen zu spekulieren. Er bietet drei Möglichkeiten an. Erstens könnte es sein, „dass Oralsex eine ‚Technologie‘ für sexuelles Vergnügen ist, deren Vorteile erst in einer Gesellschaft deutlich wurden, die viel offener mit Sex umgeht, wie es bei uns durch die Auswirkungen guter Verhütungsmethoden auf Normen und Verhalten der Fall ist.“ Er verweist darauf, dass manche Frauen durch penetrativen Sex nicht zum Orgasmus gelangen können, aber über Cunnilingus schon. Das würde allerdings nicht die besonders starke Verbreitung von Fellatio erklären.

Eine andere mögliche Erklärung ist, dass sexuell übertragbare Krankheiten wie Aids einen starken Anreiz dafür gesetzt haben, nach Alternativen zum penetrativen Sex zu suchen. Diese These wäre plausibel, wenn Oralverkehr tatsächlich in erster Linie ein Substitut zum Vaginalverkehr im ökonomischen Sinne wäre. Friedman stellt aber fest, dass Oralsex insbesondere in der weitverbreiteten Online-Pornographie eher als ein komplementäres Gut aufgefasst und dargestellt wird, also etwas, das zusätzlich betrieben wird. Ist er aber ein komplementäres Gut, dann ist diese Erklärung entkräftet.

Eine dritte mögliche Erklärung liefern vermeintlich gesteigerte Hygienestandards, die den Genuss von Oralverkehr erhöhen. Diese Erklärung hält Friedman allerdings für unplausibel, denn „viele Gesellschaften der Vergangenheit, einschließlich der westlichen Gesellschaften der letzten Jahrhunderte, verfügten über angemessene Hygiene“.

Wie jedes gute Rätsel bleibt es also vorerst ungelöst. Womöglich ist es aber auch nur ein Scheinrätsel, das ein imperialistischer Ökonom auf Basis von selektiver Evidenz konstruiert hat. Wie Friedman selbst zugibt, ist sein Überblick über die historische Literatur begrenzt. Es gibt ältere Werke der erotischen Literatur, in denen explizit von Oralverkehr geschrieben wird, wie etwa im Roman „Josefine Mutzenbacher: Die Geschichte einer Wienerischen Dirne“, der anonym im Jahr 1906 veröffentlicht wurde. Er stammt vermutlich aus der Feder von Felix Salten, der durch seinen Roman „Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde“ weltberühmt wurde. Mir ist nicht ganz klar, warum ich das für erwähnenswert halte, aber es erscheint irgendwie kurios. Die Geschichte der Wiener Dirne passt jedenfalls nicht in das Muster, dass Friedman seinen Lesern präsentiert. Vermutlich gibt es viele weitere Werke, die ein versierter Kenner der einschlägigen Literatur hier nennen könnte. Und vermutlich ist ein Blick auf moderne Online-Pornographie nicht zwingend aussagekräftig über die tatsächlichen Sexualpraktiken normaler Leute. Aber es ist in jedem Falle löblich, dass David Friedman sich dem weiten Feld zu Forschungszwecken widmet.     

David Friedman (2024): The Puzzle of Oral Sex.   


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