Lebensweisheiten: Der Pöbler im Netz
Maximen zur gesundheitsbewussten Reaktion
von Carlos A. Gebauer (Pausiert)
von Carlos A. Gebauer (Pausiert) drucken
Strafrechtliche Gerichtsurteile beginnen ihre Sachverhaltsschilderung bisweilen mit Formulierungen wie: „Der Angeklagte begab sich an diesem Abend in die Gaststätte X und suchte Streit.“ Oder: „Die Angeklagten setzten sich ungefragt an den Tisch des Zeugen Y, dessen Aufforderungen, sich zu entfernen, sie ignorierten.“ Ein paar Sätze später erfährt der Leser dann regelmäßig, wie sich eine zunächst verbale Auseinandersetzung plötzlich zu Körperkontakten, Ohrfeigen, Faustschlägen, fliegenden Stuhlbeinen, gezückten Messern und Fleischwunden mit Knochenbrüchen oder dauerhaften Entstellungen auswächst.
Durchstöbert man das Internet auf der Suche nach Werken der bildenden Kunst, die Schlägereien, Aggressionen, Prügeleien oder zwischenmenschliche Konflikte der brachialen Art darstellen, finden sich schnell Ölgemälde, auf denen über Jahrhunderte hinweg kontinuierlich gleiche Szenen dokumentiert werden. Irgendwer ist empört, ein anderer greift nach Schlagwerkzeugen, oft sieht man schlichtend eingreifende Gestalten und nicht selten – meist im Hintergrund zwischen den Unbeteiligten – feixen einige Beobachter neugierig über das, was sich ihnen im Vordergrund darbietet. Offenbar ist es eine anthropologische Konstante, dass Menschen ihre Gebiete, ihre Gefühle und ihre Interessen nötigenfalls so gewaltsam behaupten wie ein Vogel seinen Ast.
Derartiges Zähnezeigen oder Fäusteschwingen ist indes nicht auf Eckkneipen oder Stehcafés beschränkt. Vergleichbar archaische Territorialrituale lassen sich auch in den Kommentarspalten der sozialen Medien beobachten. Wer dort etwas liest, was ihm nicht gefällt, der zückt nur allzu gern die Tastatur wie einen Säbel, um dem dann angegangenen Gegenüber vor den Augen der digitalen Community virtuell den hohlen Schädel zu spalten. Nicht selten garniert mit roten Ausrufezeichen, kleinen Bomben-Emojis, allerlei Tiergestalten oder grellfarbigen Mondgesichtern im Zustand der Hyperemesis, wird dann das ganze Standardwörterbuch der Unflätigkeit abgearbeitet, kein Reizwort darf fehlen, keine Abfälligkeit ausgelassen sein und kein noch so bitterer Hashtag vergessen werden.
„Der Angeklagte begab sich an diesem Abend in das Internet und suchte Streit.“ Oder: „Die Angeklagten loggten sich ungefragt in die Kommentarspalte des Zeugen Y ein, dessen Aufforderungen, sich zu mäßigen, sie ignorierten.“ Wie halbwüchsige Schlägertrupps im Vergnügungsviertel ziehen einige Gestalten auch durch die sozialen Medien, um den Austausch anderer dort nach Kräften zu boykottieren. Nicht wenige Menschen berichten, sie läsen inzwischen nur noch auf den einschlägigen Kanälen, äußerten sich dort aber selbst nicht mehr, um solchen semantischen Messerattacken von vornherein aus dem Weg zu gehen.
Mich fasziniert, mit welcher Leichtfüßigkeit manche Teilnehmer im Netz bereit sind, aus der Sicherheitszone des eigenen Laptops heraus auf Mitmenschen sprachlich einzukeulen. Jedenfalls ist mir schwer vorstellbar, irgendeiner der dort agierenden Professoren, Experten, Coaches, CEOs, Aufsichtsräte oder Geschäftsführer käme im analogen Leben auf die Idee, einem anderen Menschen in Antwort auf dessen Wortmeldung die dort bisweilen üblichen Abfälligkeiten präsent in das Gesicht zu sagen. Vielleicht sind all dies aber auch gar nicht die ausgewiesenen Profis, als die sie sich benennen?
Nach gut dreißig Jahren professionellen Streitens bei Gericht kann ich nur empfehlen, sich von Gestalten im Netz nicht provozieren zu lassen. Ignorieren ist im sozialen Netzwerk mindestens so klug wie auf der Kreuzung, wenn ein Rowdy hupt und drängelt und blendet. Zuletzt sollte man sich immer bewusst machen: Nicht selten sind es nur scheinintelligente Computerprogramme, die mit Unfreundlichkeiten um sich werfen. Wer wollte dafür seinen Blutdruck steigen lassen?
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