04. Mai 2024 10:00

Felix Somary Der Rabe von Zürich

Über Prognosen und Zufälle

von Karl-Friedrich Israel

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Bildquelle: nullplus / Shutterstock Österreichisch-schweizerischer Nationalökonom Felix Somary (1881–1951): Lag beim Blick in die Glaskugel erstaunlich oft richtig

Von Ökonomen erwartet man, dass sie gute Prognosen abgeben. Der gute Ökonom ist sich allerdings darüber im Klaren, dass man sie nur in den seltensten Fällen zuverlässig treffen kann. Er hält sich deshalb zurück. Da es aber eine hohe Nachfrage nach Prognosen von Experten gibt, kommt er manchmal nicht umhin, doch in die sprichwörtliche Glaskugel zu blicken. Und mit etwas Glück kann sich die Prognose als richtig herausstellen. Dem Ökonomen, der einmal richtiglag, wird man dann noch mehr Vertrauen entgegenbringen. Die Nachfrage nach weiteren Prognosen steigt.

Dabei ist nicht alles bloßer Zufall. Es gibt auch in der Ökonomik gute Gründe anzunehmen, dass das eine oder andere Szenario mit hoher Wahrscheinlichkeit eintrifft oder mit hoher Wahrscheinlichkeit ausbleibt. Expertenwissen kann dabei hilfreich sein. Deshalb kann es in der Tat gute und schlechte Prognostiker geben. Aber vielen Menschen ist nicht klar, dass der reine Zufall schon ausreicht, um auf einen Wahrsager zu treffen.

Nehmen wir ein einfaches Beispiel, um das zu veranschaulichen. Stellen Sie sich 1.000 ersonen ohne jegliche Expertise vor. Jeder prognostiziert in zehn aufeinanderfolgenden Geschäftsjahren mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent, dass eine Rezession eintreten wird. Ansonsten, also ebenfalls mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent, prognostizieren sie, dass keine Rezession eintreten wird. Diese Personen wissen nichts, haben aber den eindringlichen Blick eines Experten und sprechen mit dem Brustton der Überzeugung. Man will ihnen einfach glauben, wenn man sie sieht und hört. Man kann nun rein statistisch davon ausgehen, dass es nach den zehn Jahren etwa eine Person geben wird, die jedes Jahr richtiglag. Der reine Zufall kann also den mysteriösen Experten hervorbringen, den sich alle Menschen so sehnlich wünschen. Es ist nicht entscheidend, was er wirklich weiß. Entscheidend ist nur, wie er sein Glück vermarktet und was die Menschen in den Zufall hineininterpretieren.

Dieses Beispiel ist eine grobe Vereinfachung. Es soll lediglich verdeutlichen, dass man auch über längere Zeiträume damit rechnen kann, dass in einer großen Gruppe von Menschen einige herausstechen werden, weil sie viele richtige Prognosen abgegeben haben. Es ist falsch, davon auszugehen, dass dies zwingend auf besonderen Erkenntnissen und Einsichten beruhen müsse. Es kann auch bloßer Zufall sein.

Trotzdem wollen wir daran glauben, dass es Menschen gibt, die mehr wissen und erkennen als andere. Im Grunde wissen wir, dass es sie gibt. Es ist nur nicht ganz klar, ob sie unter all den Zufällen, die geschehen, auch zuverlässig identifiziert werden. Je unwahrscheinlicher es erscheint, dass die Prognosen rein zufällig richtig sind, desto größer wird unsere Bewunderung für den Prognostiker.

Im 20. Jahrhundert hat es einen Ökonomen und Bankier gegeben, der als „Rabe von Zürich“ bekannt wurde, weil nach Aussagen mehrerer Zeitgenossen alle Prognosen, die er je abgegeben habe, auch wahr geworden seien. Es handelt sich um Felix Somary, der 1881 in Wien geboren wurde. Er studierte Rechts- und Wirtschaftswissenschaften an der Universität Wien und zählte Leute wie Joseph Schumpeter, Emil Lederer und Otto Bauer zu seinen Kommilitonen.

Er hat insbesondere die politischen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts frühzeitig erahnt und als Bankier seinen Kunden große Dienste erweisen. So hat er das beträchtliche Vermögen der Wiener Rothschilds während der Zwischenkriegszeit in die Schweiz übertragen, wo er die Leitung des Bankhauses Blankart & Cie in Zürich übernahm. Somary hatte in der Schweiz einen sicheren Hafen gesehen. Er ahnte nicht nur den Ersten Weltkrieg voraus, sondern gehörte auch zu denjenigen, die die Lasten des Versailler Vertrages für Deutschland als viel zu drakonisch einstuften und damit einen erneuten Konflikt für wahrscheinlich hielten. Auf einer Konferenz in London sagte er bereits 1930: „Großbritanniens Aufgabe ist es, Deutschland und Frankreich wieder zusammenzuführen. Hat England hierzu nicht den Willen oder die Kraft, so wird die jetzige Krise nur Vorspiel einer dunklen Periode werden, der der Geschichtsschreiber künftiger Zeiten den Namen geben wird: Zwischen zwei Kriegen.“

Felix Somary stand den politischen Zentralisierungstendenzen seiner Zeit mit großer Sorge gegenüber. Für ihn waren der Föderalismus der Schweiz vorbildhaft und politische Zentralisierung eine Bedrohung. Laut seines Sohnes Wolfgang Somary schrieb er zum Beispiel in unveröffentlichten Notizen: „Es vollzieht sich ein Prozess, dessen Bedeutung für die Tyrannis noch nicht genügend gewürdigt ist: die Zerstörung des Föderalismus durch den Einheitsstaat oder die Ersetzung des Staatenbundes durch den Bundesstaat. Wie immer man sonst die Ergebnisse der vier Bruderkriege – in der Schweiz, in Amerika, in Italien und in Deutschland – bewerten mag, sie alle haben ein Hindernis beseitigt, das der Einführung einer Diktatur im Wege stand. Die scharfe Zentralisierung erleichtert den Griff des Usurpators auf den Staat und erschwert den Widerstand dagegen.“

Neben der Zentralisierung von politischer Macht erkannte er eine große Gefahr in der politischen Kontrolle über das Geld. Nach eigenen Berechnungen schätzte er, dass der Erste Weltkrieg nicht länger als zwei Jahre hätte dauern können und der Zweite nie begonnen worden wäre, hätte man nicht das Gold als Einheitswährung abgeschafft. In Bezug auf die Goldwährung wagte Somary eine weitere Prognose. Er schrieb an seinen Sohn, während dieser nach dem Zweiten Weltkrieg Ökonomie studierte: „Die Bedeutung des Goldes liegt darin, dass es unzerstörbar ist, das heißt, alles seit Jahrhunderten produzierte Gold ist da und die jährliche Neuproduktion fügt nur ungefähr drei Prozent pro Jahr zu. Das genügt für die Erweiterung der Wirtschaft und verhütet Inflation. Infolge der Kriege hat sich das Gold bei wenigen Staaten konzentriert – Amerika, Russland, Schweiz; die Engländer erklären das Gold für obsolet, weil sie es nicht mehr haben, aber das ist naiv. Wenn die Wirtschaft einmal in einer Friedensära wieder in Ordnung kommt, wird die Goldwährung wieder universell werden, weil sie unersetzbar ist.“

Als Somary diese Zeilen schrieb, war das Bretton-Woods-System bereits implementiert. Er erkannte also, dass es sich hier keinesfalls um einen universellen Goldstandard handelte. Es war mehr dem Schein nach ein Goldstandard. Kann man nun sagen, dass Somary zumindest mit dieser Prognose falschlag? Es sieht ganz danach aus. Zwar ließe sich argumentieren, dass es auf der Welt im Ganzen seit den großen Kriegen niemals wirklich Frieden gegeben habe. Es gab den Kalten Krieg zwischen West und Ost, den Krieg gegen den Terror und nun nach Meinung vieler Experten einen neuen Kalten Krieg. Zwischendrin gab und gibt es zahlreiche weitere Konflikte. Aber zumindest die westliche Welt hat untereinander keine Kriege mehr geführt. Und trotzdem hat man sich nur weiter von einem universellen Goldstandard entfernt. Selbst in Friedenszeiten scheint es keinerlei Bestreben zu geben, die politische Kontrolle über das Geld aufzugeben. Aus Sicht der meisten Politiker ist die Goldwährung alles andere als unersetzlich.      

Felix Somary (2010): Krise und Zukunft der Demokratie.   


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