04. Mai 2024 22:00

Eurovision Song Contest Perlen im Einheitsbrei

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von Thorsten Brückner

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Bildquelle: rarrarorro / Shutterstock 68. Eurovision Song Contest: Findet dieses Jahr vom 7. bis 11. Mai in Malmö statt

Als jemand, der von klein auf gerne Musik aus anderen Kulturen gehört hat, hat mich der Eurovision Song Contest, seit ich denken kann, fasziniert. Ende der 90er war die Mehrzahl meiner Lieblingslieder Eurovision-Beiträge. Daher war es für mich Jahr für Jahr eine Selbstverständlichkeit, dass ich mir nach dem Wettbewerb das Album mit allen Liedern kaufte.

Die Begeisterung ist seither etwas gewichen. Das hat auch damit zu tun, dass aus dem musikalischen Festival der Kulturen über die Jahre zunehmend ein Einheitsbrei wurde. Seit 1999 müssen Lieder nicht mehr in der Landessprache gesungen werden, was seitdem immer mehr dazu verführt hat, lieber in grausamem Englisch als in der Muttersprache zu trällern. Andererseits wollen Sänger und Liedschreiber von ihrem europäischen Publikum natürlich auch verstanden werden. Gut finde ich, dass einige Länder ihre Beiträge zweisprachig – auf Englisch und in der Landessprache präsentieren. Oder gar mehrsprachig, wie die Gruppe Sürpriz, die Deutschland mit „Reise nach Jerusalem“ beim Contest in Israel 1999 vertrat und auf Deutsch, Türkisch, Hebräisch und Englisch performte – für mich übrigens einer der besten deutschen Eurovision-Beiträge in der Nachchansonära. 

Doch selbst ein rein auf Englisch gesungenes Lied kann ja kulturelle musikalische Besonderheiten transportieren und muss nicht zwangsläufig in dem Mainstream-Eurovision-Einheitspop mit viel Tanz und ebenso wenig musikalischem Tiefgang enden, was es in den letzten 20 Jahren manchmal etwas frustrierend gemacht hat, die Veranstaltung im Fernsehen zu verfolgen. Ein Beispiel für ein solch gelungenes, obwohl gänzlich auf Englisch gesungenes Stück ist sicher Sertab Ereners Siegertitel von 2003, „Everyway that I can“. Apropos Türkei: Die nimmt seit 2013 nicht mehr teil. Die Gründe sollen unter der Hand dieselben sein, die auch Orbáns Hausender MTVA zum Rückzug nach 2019 veranlasst haben sollen: zu schrill, zu schwul, zu trans.

Oft klingen miesepetrige deutsche Konservative genauso, wenn sie über den Song Contest reden. Mich stört es nicht die Bohne, dass bestimmte historisch eher ausgegrenzte Communitys den Song Contest feiern und teilweise auch mitprägen. Ich verstehe wirklich nicht, wie sich da manche schon von einem Transvestiten oder einer Regenbogenflagge getriggert fühlen. Außerdem kann man sich doch auf andere Aspekte der Veranstaltung fokussieren, wie die Musik, die Show und auch das Voting, solange man diesen Prozess nicht bierernst nimmt. Das ist wie beim Wrestling: Man kann die Show genießen, auch im Wissen, dass es Fake ist, auch im Wissen, dass es natürlich zu Manipulationen kommt. Und so offensichtlich, wie gerade konservative Kritiker meinen, sind die Manipulationen dann auch nicht. Der ukrainische Siegerbeitrag von 2022 etwa landete nicht nur aus missverstandener Solidarität auf dem ersten Platz, sondern auch weil es ein verdammt guter Song war, der zweifellos auch ganz ohne Krieg vorne mit dabei gewesen wäre. 

Doch gerade, wenn man die letzten beiden Eurovision-Dekaden mit den Jahrzehnten davor vergleicht, ist der von mir eingangs angesprochene musikalische Niedergang doch offensichtlich. War früher die Hälfte der Lieder gut, sind es heute vielleicht noch eine Handvoll – bei im Vergleich zu früher deutlich größerem Teilnehmerfeld. Doch überraschenderweise setzen sich gerade dann auch diese oft durch oder erreichen zumindest starke Platzierungen, was mir viel Hoffnung für die Zukunft macht. Ich habe mich 2017 von meinem Zynismus leiten lassen, und, nachdem ich mir im Vorfeld alle Songs angehört hatte, entschieden, den Contest nicht zu schauen. Nur ein wirklich starker Titel war meinem Empfinden nach dabei, der an frühere Chanson-Zeiten erinnerte, und ich war mir sicher, dass er am Ende wie frühere portugiesische Darbietungen im Mittelfeld landen würde. Das wollte ich mir nicht antun. Als ich dann gegen ein Uhr morgens doch zur Fernbedienung griff, sah ich gerade noch Salvador Sobral und seine Schwester den Siegertitel „Amar pelos dois“ singen. Eine der besten und berührendsten Darbietungen der vergangenen 20 Jahre. 

Natürlich ist der Eurovision Song Contest eine etatistische Veranstaltung. Teilnehmen dürfen nur die nationalen Sendeanstalten der EBU-Mitgliedsländer, in Deutschland also die ARD, was die vielen Griffe ins Klo mit vergangenen deutschen Beiträgen erklärt. Doch ich denke, das kann man beklagen, ohne sich die Veranstaltung madig zu machen. Schließlich zahlt man nicht einen Cent weniger Zwangsgebühren, nur weil der Fernseher ausbleibt. Ich höre ja am Morgen den bayerischen Staatssender BR Heimat auch wegen der Volksmusik und blende die ganze Propaganda dazwischen aus. Warum sollte ich an den Song Contest, wo verglichen mit dem Bayerischen Rundfunk übrigens deutlich weniger Propaganda verbreitet wird, andere Maßstäbe anlegen?

Der diesjährige Contest, der kommenden Dienstag und Donnerstag mit den Halbfinals in Malmö startet, hat meiner Meinung nach mehr gute Lieder zu bieten als der Vorjahreswettbewerb. Und auch der Trend hin zum Englischen scheint etwas gebrochen. Fast die Hälfte aller 37 Lieder werden zumindest in einer weiteren Sprache als nur Englisch gesungen. Zum Vergleich: Zwischen 2015 und 2017 waren über 80 Prozent aller Lieder ausschließlich auf Englisch. Zu meinen persönlichen Favoriten gehören in diesem Jahr Armenien, Frankreich und Portugal, die auch alle in der Landessprache singen.

Große Aufregung gab es im Vorfeld um den israelischen Beitrag. Zwei Eingaben des israelischen Ausrichters Kan ließ die EBU nicht zu – zu politisch. Erst der dritte Song, „Hurricane“, erhielt den erhobenen Daumen der Regelhüter. In Israel führte das zu teilweise heftiger Kritik. Viele aus dem rechten Spektrum forderten, man solle lieber gar nicht antreten, als etwas an dem Song, der sich mit dem Leid der Opfer des 7. Oktober beschäftigt, zu verändern. Ursprünglich hatte dies Kan auch so angekündigt. Doch Staatspräsident Herzog, wesentlich smarter als die rechten Scharfmacher, verstand natürlich, wie wichtig es für Israel ist, gerade angesichts der Boykott-Forderungen, vornehmlich aus skandinavischen Ländern, in diesem Jahr überhaupt anzutreten und sich zu präsentieren. Ich hätte mir dennoch gewünscht, dass Israel mit seinem ursprünglichen Lied „October Rain“ antreten darf. Soll man doch Jury und Zuschauern die Bewertung überlassen! Die andere Perspektive auf Israels Teilnahme ist freilich, dass sich Kan glücklich schätzen kann, in diesem Jahr überhaupt dabei zu sein. Hätte man an Israel dieselben Maßstäbe angelegt wie an die vom Wettbewerb ausgeschlossenen Russen, würden wir in diesem Jahr wohl keine Punktevergabe aus Jerusalem erleben.  

Das immer wieder aufkommende Argument, Israel solle nicht teilnehmen dürfen, weil das Land nicht in Europa liege, ist natürlich Blödsinn. Und das nicht erst, seit Australien seit 2015 regelmäßiger Teilnehmer ist. Auch Marokko war 1980 dabei, der Libanon und Tunesien standen jeweils mindestens einmal bereits kurz vor der Teilnahme. Israel tritt seit 1973 an, hat den Contest viermal gewonnen und lieferte, mit leider merklichen Ausnahmen in den vergangenen zehn Jahren, immer Top-Beiträge. Dabei präsentierte sich das Land bisweilen wesentlich weltoffener als so mancher kerneuropäische Teilnehmerstaat. Für die Sicherheitskräfte in Schweden ist Israels Antreten sicher ein logistischer Alptraum. Denn auch ganz ohne Gaza-Krieg gilt Malmö, in der jeder vierte Einwohner Moslem ist, nicht gerade als Hochburg israelischer Eurovision-Fans. 


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