01. Juni 2024 10:00

Ökonomie Gottfried Haberler und die Unmöglichkeit der exakten Inflationsmessung

Über die Anmaßung der amtlichen Inflationsstatistik

von Karl-Friedrich Israel (Pausiert)

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Bildquelle: Socozora A / Shutterstock Nobelpreisträger Paul A. Samuelson: Schüler von Gottfried Haberler, dessen Werk heutzutage nahezu vergessen ist

Gottfried Haberler (1900–1995) ist einer der bedeutendsten Ökonomen der Österreichischen Schule. Im Alter von 36 Jahren wurde er zum Professor an der (damals noch) renommierten Universität Harvard ernannt. Über fast vier Jahrzehnte unterrichtete er einige der einflussreichsten amerikanischen Ökonomen. Unter den Studenten in seinen ersten Kursen in Harvard war zum Beispiel der spätere Nobelpreisgewinner Paul Samuelson, der vielfach als der wichtigste Vertreter der modernen Neoklassik und des Keynesianismus angesehen wird. Er war maßgeblich an der Synthese beider Strömungen beteiligt.

Samuelson sagte einmal in einer Laudatio zum 90. Geburtstag seines Professors, dass Gottfried Haberler zweieinhalb Nobelpreise verdient hätte: für seine Beiträge zur Außenhandelstheorie, für seine Kritik und Zusammenführung verschiedener Konjunkturtheorien und für seine Weisheit in allen Fragen der Wirtschaftspolitik. In einer Laudatio wird gern übertrieben. Aber bereits 1968, als das schwedische Nobelpreiskomitee Samuelson kontaktierte, um zu fragen, welche Ökonomen seiner Ansicht nach einen Nobelpreis verdient hätten, listete er Gottfried Haberler auf.

Haberler gelangen aber sogar noch weitere bahnbrechende Beiträge zur Wirtschaftstheorie. Seine Theorie der Indexzahlen und der Inflationsmessung erwähnte Samuelson nicht explizit. Dies ist erstaunlich, denn seine berühmte Theorie der „enthüllten Präferenzen“ baut direkt auf Haberlers Indextheorie auf. Er hat nur zwei Jahre, nachdem er seinen ersten Kurs mit Haberler hatte, zum ersten Mal darüber publiziert und wurde auch durch diese Theorie zu einem der bekanntesten Ökonomen. Heute wissen selbst die meisten Ökonomen nicht, dass Haberlers Arbeit maßgeblich zu der Entwicklung dieser Theorie beigetragen hat.

Vor fast 100 Jahren veröffentlichte Gottfried Haberler seine Habilitationsschrift „Vom Sinn der Indexzahlen“, die er Mitte der 1920er Jahre an der Universität Wien verteidigte. Seither wurden keine wesentlichen Fortschritte mehr im Bereich der Indextheorie gemacht. Trotzdem ist das Werk weitestgehend vergessen. Seine wichtigen Lehren werden heutzutage ignoriert.

Haberler erkannte das Grundproblem der praktischen Inflationsmessung. Er hat dargelegt, dass wir selbst für ein einzelnes Individuum unter den besten idealisierenden Annahmen keine objektive Inflationsrate in der Praxis berechnen können. Wir können lediglich eine gewisse Bandbreite an Inflationsraten bestimmen, nicht aber eine exakte Zahl. Noch weniger gelingt uns dies für eine gesamte Gesellschaft. Hinzu kommt, dass die idealisierenden Annahmen in der echten Welt niemals erfüllt sind. Deshalb ist selbst die Bestimmung einer plausiblen Bandbreite mit Problemen behaftet.

Die Annahmen, die wir treffen müssen, sind in der Tat hochgradig unrealistisch. So müssen wir zum Beispiel annehmen, dass die Präferenzen und Bedürfnisse des betrachteten Individuums über die Zeit hinweg konstant bleiben, dass sich sein Einkommen und Vermögen über die Zeit nicht verändern, dass alle Güter in gleicher Qualität zu jedem Zeitpunkt der betrachteten Periode erhältlich sind und dass diese Güter auf freien Märkten gehandelt werden.

Insbesondere die letzte Annahme ist hochinteressant. Haberler sagt uns, dass für eine möglichst genaue Schätzung der Preisinflation eine freie Marktwirtschaft nötig sei, denn nur in einer freien Marktwirtschaft sind die Kaufentscheidungen des Einzelnen auch tatsächlich ein Ausdruck von subjektiver Präferenz. Ist die Wirtschaft überreguliert und kaufen die Menschen Güter nicht freiwillig, sondern durch expliziten oder impliziten Zwang, dann reflektieren die beobachteten Preise nicht mehr das, was wir von ihnen erwarten.

Dies kann man anhand eines Extrembeispiels sehr gut veranschaulichen. Stellen Sie sich vor, dass der Staat alle Preise per Gesetz fixiert. Er hebelt also das System der Marktpreise völlig aus. In dieser Situation gibt es keine Inflation, die sich in Preissteigerungen ausdrücken kann. Alle Preise sind stabil. Das heißt aber nicht, dass keine Inflation oder keine Verteuerung der Lebensumstände stattfindet. Sie drücken sich nur in anderen Formen aus. Güter und Dienstleistungen werden nur noch in schlechterer Qualität angeboten oder sie verschwinden ganz vom Markt und werden, wenn überhaupt, nur noch in der Schattenwirtschaft gehandelt. Die Preise sind offiziell stabil, aber die reale Kaufkraft des Geldes sinkt trotzdem. So ist es aber auch bei moderaten und indirekten Preiskontrollen. Nehmen Sie etwa eine Mietpreisbremse. Sie sorgt dafür, dass die Mieten weniger schnell steigen. Die Inflation, gemessen an den Preisen, fällt daher geringer aus. Aber in vielen Städten wird es immer schwieriger, überhaupt eine Wohnung zu finden, und die Wohnungen, die man bekommt, sind häufig in schlechtem Zustand. Die Teuerung drückt sich also anders aus. Die beobachtbaren Geldpreise verschleiern sie.

Auch die Annahme, dass alle Güter in gleicher Qualität zu allen Zeitpunkten erhältlich sein müssen, ist in der echten Welt, auch ohne Überregulierung von Märkten, nicht erfüllt. Ständig kommen neue Produkte auf den Markt, die es vorher nicht gab. Ständig verändern sich qualitative Aspekte von Gütern und Dienstleistungen. Manchmal erhöht sich die Qualität. Mobiltelefone und Computer werden ständig leistungsstärker. Manchmal verschlechtert sich die Qualität. Service wird abgebaut und die Haltbarkeit von Produkten verkürzt sich. Diese Veränderungen kann die Preisinflationsstatistik nicht objektiv fassen.

Trotzdem versucht die amtliche Inflationsstatistik, Qualitätsänderungen zu berücksichtigen. Dabei kann sie nur scheitern. Es liegt in der Natur der Sache, dass ihr Qualitätsverschlechterungen öfter durch die Lappen gehen als Qualitätsverbesserungen. Letztere werden durch die Produzenten beworben. Sie stehen in der Produktbeschreibung und werden offen kommuniziert, um die potenziellen Kunden zum Kauf zu bewegen. Verschlechterungen werden hingegen kaschiert und können deshalb nicht so leicht beobachtet werden. Deshalb wird die amtliche Statistik in der Tendenz die Inflation nach unten korrigieren, wenn es Qualitätsverbesserungen gibt. Sie wird die Inflation aber nicht so zuverlässig nach oben korrigieren, wenn es Qualitätsverschlechterungen gibt. Die eine Inflationszahl, die am Ende veröffentlicht wird, ist eine bloße Anmaßung von Wissen, über das niemand verfügen kann. Man sollte ihr nicht zu viel Vertrauen schenken.

Karl-Friedrich Israel (2024): Gottfried Haberler’s Contributions to the Theory of Index Numbers: A Blueprint for Revealed Preference Theory


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