10. Juni 2024 16:00

Unterhauswahl im Vereinigten Königreich Nigel Farage, der übernächste Premierminister?

Als „Mr. Brexit“ Großbritannien aus der EU hievte, übte er nur

von Robert Grözinger

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Bildquelle: Sean Aidan Calderbank / Shutterstock.com Wäre an der politischen Spitze des Vereinigten Königreichs gut aufgehoben: Nigel Farage

Alle Welt erwartet, dass am 4. Juli Rishi Sunak aus der Downing Street fliegt und die oppositionelle Labour-Partei einen historischen Sieg einfährt. Doch der wirkliche Wahlsieger wird höchstwahrscheinlich ein anderer sein. Der Brexit war erst der Anfang einer epochalen Wende.

Im Vereinigten Königreich muss man sich nicht mehr um die EU-Parlamentswahl kümmern. Stattdessen werden im nächsten Monat Wahlen zum Unterhaus abgehalten. Sie versprechen weitaus umwälzendere Ergebnisse als die im kontinentalen Länderblock. Im vergangenen März schrieb ich auf dieser Webseite, dass sich alle Beobachter über das Ergebnis der spätestens im nächsten Januar kommenden Wahl in Großbritannien sicher sind: „Die regierenden Konservativen werden hochkant aus der Downing Street fliegen und sich, auf Schlumpfgröße geschrumpft, auf den Oppositionsbänken wiederfinden.“ (Siehe Link unten.)

Nun steht der Wahltermin fest, es ist es der 4. Juli. An der obigen Einschätzung des Ergebnisses hat sich nichts geändert. Es war schon im März nicht schwer, diese Vorhersage zu treffen. Die oppositionelle, sozialdemokratische Labour-Partei steht in den Umfragen seit Anfang 2022 ununterbrochen vorn. Seit September 2022, nach dem Rauswurf von Boris Johnson, deutlich vorn. Von da an war ihr Abstand von den regierenden Konservativen nie kleiner als 15 Prozent. Unter dem in Großbritannien herrschenden wahlkreisbezogenen, relativen Mehrheitswahlrecht ist der Abstand der stärksten Partei zur nächststärksten wichtiger als die Prozentzahlen selbst. Er ist der wichtigste Indikator darüber, wie groß die absolute Mehrheit der stärksten Partei im Parlament sein wird. Nur selten kommt es unter diesen Umständen zu der Notwendigkeit, Koalitionen zu bilden. Eine solche Notwendigkeit ist nicht in Sicht. Labour wird eine haushohe, absolute Parlamentsmehrheit einfahren. 

Wenn die Umfragen so deutlich sind, dann ist die Wahl nur noch Formsache. Entsprechend langweilig gestaltete sich der Wahlkampf – zunächst. Zumal die beiden Spitzenkandidaten, Premierminister Rishi Sunak und der Oppositionsführer Keir Starmer, wie Klone aus dem selben technokratischen Reagenzglas des „Regimes der Manager“ wirken. Wie auch in anderen Ländern des Westens inzwischen lange der Fall, wirken die führenden Politiker Großbritanniens, als hätten sie jede Bodenhaftung verloren. Starmer ließ sich während der BLM-Proteste 2020 gerne mit gebeugtem Knie fotografieren und ließ vor einem Jahr wissen: „99,9 Prozent aller Frauen haben keinen Penis“.

Sunak hat vergangene Woche die geringe Chance auf Sieg, die er noch hatte, vollends zerschossen. Er verabschiedete sich vorzeitig von den Feierlichkeiten um den 80. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie, um zu Hause ein Fernsehinterview zu geben. Es war das letzte runde Jubiläum, an dem noch Soldaten und andere Zeitzeugen, sämtlichst jetzt um die 100 Jahre alt, würden teilnehmen können. Dass der Premierminister ausgerechnet diesen Termin teilweise schwänzte, nehmen ihm die treuesten Wähler der Konservativen besonders übel.    

Von diesem letzten Fehltritt wird aber nicht die kommende Regierungspartei Labour profitieren, sondern eine neue Partei, die sich anschickt, die wahre Opposition im Parlament zu werden und den Auflösungsprozess der Konservativen zu beschleunigen. Die Partei heißt „Reform UK“ und wurde 2018 unter einem anderen Namen gegründet: Die Brexit-Partei. Aktuell kommt Reform in den Umfragen durchschnittlich auf 13 Prozent, wobei eine jüngere Umfrage die emporkommende Partei bereits bei 17 Prozent sieht und die Konservativen nur noch bei 19.

Diese neue Partei, die gegründet wurde, um nach dem Referendum der zögernden und zaudernden herrschenden Klasse Feuer unterm Hintern zu machen – und damit fulminanten Erfolg hatte –, könnte bei der Wahl Anfang Juli der Überraschungssieger sein. Natürlich wird sie nicht die absolute Mehrheit erringen – nicht im entferntesten. Sie wird auch ganz sicher nicht die zweit- auch nicht die drittstärkste Partei. Aber drei bis fünf Sitze darf sie erwarten. Das wäre eine Sensation. Vor allem, wenn man bedenkt, wer mit hoher Wahrscheinlichkeit einer dieser neuen Abgeordneten sein wird: Kein Geringerer als Nigel „Mr. Brexit“ Farage. Der bislang sieben Mal zur Unterhauswahl antrat – und jedes Mal scheiterte.

Nach der Ankündigung des Juli-Wahltermins zögerte Farage zunächst, eine Kandidatur aufzunehmen. Ursprünglich wollte er im Sommer Wahlkampf in den USA für Donald Trump machen und ansonsten seinen lukrativen Job beim neuen TV-Sender „GBNews“ behalten. In einer auf diversen sozialen Medien vergangene Woche veröffentlichten Rede erklärte er, warum er sich jetzt doch anders entschieden hat. Er sei kürzlich für einige andere Kandidaten der Reform-Partei im Wahlkampf unterwegs gewesen. Wo immer er auftauchte, sei er regelmäßig von Passanten gefragt worden, warum er nicht selbst antrete. Er habe die Enttäuschung in den Gesichtern der Menschen gesehen. Leute, die ihm jahrzehntelang die Stange gehalten haben. Der charismatische Volkstribun ergänzte, er spüre, dass sich die Stimmung im Land ändere und die Chance für einen echten Wandel gekommen sei (siehe Link unten).

Das letzte Mal, als Farage für das britische Parlament kandidierte, im Jahr 2015, richteten die Konservativen in seinem Wahlkreis ein konzentriertes Propagandafeuer gegen ihn. Obwohl er für seine Partei – damals war es die UKIP – im Wahlkreis 26 Prozent hinzugewann, verlor er gegen den Kandidaten der Konservativen. Offenbar ging dabei nicht alles mit rechten Dingen zu, denn der Wahlkreismanager der Sieger bekam in der Folge aufgrund von Unregelmäßigkeiten eine neunmonatige Freiheitsstrafe auf Bewährung aufgebrummt.

In diesem Jahr aber fehlt den Konservativen die Kraft und die Kampfmoral, noch einmal ein wahlkampftaktisches Trommelfeuer gegen Farage durchzuziehen. Die spannendste Frage in diesem Wahlkampf wird also sein, ob es dem rauchenden, Bier trinkenden Schrecken der Herrscherkaste diesmal gelingen wird, ins Parlament einzuziehen und die politische Landschaft ordentlich aufzumischen. Es sieht sehr danach aus. In der Küstenstadt Clacton, wo Farage jetzt kandidiert, stand die Reform-Partei ohne ihn bei 18 Prozent, die Konservativen bei 36 bis 38 Prozent. Jetzt, nachdem Farage sich dort aufgestellt hat, steht seine Partei bei 37 Prozent, die Konservativen bei 27. Andere Parteien haben in diesem Wahlkreis keine Chance.

Die Konservativen sind verzweifelt. Sie sagen, eine Stimme für „Reform UK“ ist eine Stimme für Labour. Der Trick zieht nicht mehr. In vielen Medien, auch im Mainstream, wird die Meinung kolportiert, dass die Konservativen jetzt genauso für hohe Steuern und hohe Einwanderungszahlen stehen wie Labour. Und, wie gesagt, der Vorsprung der Roten in den Umfragen begann lange vor dem Aufstieg der Reform-Partei. Ohnehin hätte sich nach 14 Jahren auch unter normalen Umständen unter den Wählern genug Groll über die Regierung aufgestaut. Hinzu kamen das Pandemie-Chaos und die parteiinternen Kämpfe um den richtigen Umgang mit dem Brexit. Die britischen Konservativen wirken ausgelutscht. Und das wissen sie.

Das Brexitreferendum war eine Volksabstimmung über das Regime der Manager, welches das Parteienduo Labour-Konservative fest im Griff hat. Es verlor, weigerte sich aber, dieses Urteil anzunehmen und seine Ausrichtung zu ändern. Es arbeitet weiter an einer möglichst vom Volk ungestörten „global governance“. Die Einwanderung wurde nicht unter Kontrolle gebracht. Die Wirtschaft wurde nicht dereguliert, die Steuern nicht gesenkt. Die Wut und resignative Verzweiflung vieler über das missachtete Metasignal des Referendums ist ausreichend hoch, dass es der Reform-Partei gelingen dürfte, einen Fuß in die Tür des Parlaments zu bekommen.

Zur Erinnerung: Im Jahr 1999 gelang es der UKIP erstmals, Sitze im EU-Parlament zu erringen, nämlich genau drei. Im Jahr 2014 bekam sie mit 26 Prozent die relative Mehrheit der britischen Sitze dort. Fünf Jahre später errang die Nachfolgepartei, die „Brexit-Partei“, ebenfalls unter Nigel Farage, 30 Prozent und war ebenfalls die stärkste britische Partei. Farage ist jetzt 60. Er hat noch Zeit, eine solche Leistung in einem anderen Parlament zu wiederholen, wenn er will.

Es ist also klar, der nächste Premieminister wird Kier Starmer heißen, der Kopf der Labour-Partei. Die wirklich interessante Frage aber lautet: Wer wird der übernächste? Bei den Turbulenzen, die Europa und die ganze westliche Welt demnächst erfassen werden, ist nichts unmöglich.

Quellen:

Vorrevolutionäre Zeiten: Englische Davos-Parteien erleiden Popularitätsverlust (Robert Grözinger, Freiheitsfunken, 25.03.2024)

Nigel Farage erklärt seine Motivation, jetzt doch zur Unterhauswahl anzutreten. (Youtube, englisch)


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