27. Juni 2024 06:00

„Wording“ Pflicht versus Zwang

Von einer Begriffsverwirrung

von Olivier Kessler

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Bildquelle: Chris Redan / Shutterstock Deutsch-Absurdistan im Jahr 2020: „Maskenpflicht“ in der Münchner Fußgängerzone

Im heutigen sozialdemokratisierten Meinungsklima fühlen sich immer mehr Politiker dazu berufen, anderen Menschen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben. Doch kaum jemand getraut sich, diese Akte als das zu benennen, was sie sind: nämlich Zwang – oder in anderen Worten: die Androhung oder Anwendung von nackter Gewalt, wenn man einer entsprechenden Anordnung nicht Folge leistet. Lieber weicht man auf sanftere Begriffe aus, die allerdings in diesem Kontext völlig falsch verwendet werden. So zum Beispiel der Begriff „Pflicht“.

Komischerweise sprechen Politiker, die zum Beispiel alle Menschen dazu zwingen wollen, sich bestimmte Substanzen in den Körper zu spritzen oder sich zu maskieren, nicht von einem „Impfzwang“ oder einem „Maskenzwang“. Lieber sprechen sie von der Einführung einer allgemeinen „Impfpflicht“ oder einer „Maskenpflicht“. Gleiches gilt für die „Militärdienstpflicht“, die „Schulpflicht“ und andere sogenannte „Pflichten“, die uns von der Politik aufoktroyiert werden. Die meisten übernehmen dann dieses „Wording“ blind. Doch diese Begriffe sind falsch. Pflicht und Zwang sind nicht dasselbe und dürfen nicht miteinander vermischt werden.

Schon im Zeitalter der Aufklärung wiesen einige Denker darauf hin, dass Herrschaft von Zwang und Recht vom Vertrag herkommen. In der Tat kann niemand mehr Rechte und Pflichten gewähren oder einfordern, als dies in einem Vertrag festgelegt wurde. Rechte und Pflichten entstehen also nur aus Verträgen, aus freiwilligen Abmachungen.

Wenn freiwillige Vereinbarungen geschlossen werden, stellen sich erwartungsgemäß alle Vertragsparteien besser. Wenn Sie sich gegenüber einem Buchhändler verpflichten, 30 Franken für ein Buch zu bezahlen, und der Buchhändler sich verpflichtet, Ihnen das Buch innert nützlicher Frist zu liefern, dann stellen Sie sich beide besser. Denn Sie würden die 30 Franken nicht hergeben, wenn Sie sich vom Buch nicht einen höheren Nutzen versprächen, als wenn Sie diese 30 Franken eingespart hätten. Und der Buchhändler würde das Buch nicht hergeben, wenn er sich von den 30 Franken keinen höheren Nutzen verspräche, als wenn er das Buch stattdessen behalten hätte. Es handelt sich folglich bei einer freiwilligen Verpflichtung um ein Win-win-Geschäft, bei dem sich beide besserstellen – und zwar verglichen mit einer Situation, in der der Vertrag nicht geschlossen worden wäre.

Niemand kann aber einen anderen zu etwas „verpflichten“ ohne dessen Einwilligung. Wenn jemand Sie „verpflichten“ will, ihm Ihr Portemonnaie zu überlassen, und er Ihnen droht, dass er Ihnen andernfalls einen großen Schaden zufügen wird, so „verpflichtet“ er Sie in Wahrheit nicht, sondern er zwingt Sie. Denn Sie möchten ja beides nicht: weder das Portemonnaie abgeben, noch dass Ihnen Schaden zugefügt wird. Beides sind Übel. In diesem Fall gibt es keine Win-win-, sondern vielmehr eine Win-lose-Situation. Der andere gewinnt etwas auf Kosten und zulasten von Ihnen. Kurzum: Pflicht bedeutet Win-Win, Zwang bedeutet Win-Lose.

Eine Impf- oder Maskenpflicht zum Beispiel kann es nur geben, wenn sich die Vertragsparteien freiwillig dazu verpflichtet haben. Ein privater Arbeitgeber und eine Arbeitnehmerin können sehr wohl vereinbaren, dass es eine Voraussetzung ist, sich zu impfen oder in gewissen Situationen eine Maske zu tragen, damit die Arbeitnehmerin die Arbeiten ausüben darf. Auch könnte eine private Busfahrtgesellschaft nur Passagiere mitfahren lassen, die eine Maske tragen, wenn sie sich entsprechend auf dem Markt positionieren will. Denn sie schuldet niemandem eine Mitfahrt und kann sich ihre Kunden frei aussuchen. Insofern verpflichten sich alle Kunden, die dort ein Ticket kaufen, dass sie während der Fahrt eine Maske tragen, wenn dies beim Verkauf so als Bedingung fürs Mitfahren deklariert wurde. In solchen Fällen kann man gut und gerne von einer Maskenpflicht sprechen.

Völlig falsch ist der Begriff aber, wenn einer Interaktion keine Vertragsbasis zugrunde liegt. Wenn die Politik beispielsweise allen Restaurants-, Hotel-, Verkehrs-, Gesundheits- und Kulturbetrieben verordnet, dass sie nur noch Leute reinlassen dürfen, die geimpft sind und eine Maske tragen (und ihnen andernfalls mit Zwangsschließung gedroht wird), so gilt hier eben keine „Masken-“ oder „Impfpflicht“. Denn weder die Restaurant-, Hotel-, Kultur- oder Verkehrsbetriebe noch ihre Kunden haben sich freiwillig dazu verpflichtet. Vielmehr werden sie alle von einer außenstehenden Instanz – dem Staat – dazu gezwungen.

Genauso falsch ist es, wenn im öffentlichen Verkehr, an Universitäten oder in Museen, die von allen Steuerzahlern zwangsweise mitfinanziert werden, die Durchsage erklingt: „Hier gilt eine Maskenpflicht!“ Man kann nicht einfach Leute dazu zwingen, staatliche Verkehrsbetriebe oder Universitäten mitzufinanzieren, sie dann aber von der Nutzung ausschließen. Das wäre doppelt verwerflich. Aber eben auch begrifflich inkorrekt.

Was politisch verordnete „Militärdienstpflicht“, „Schulpflicht“, „Maskenpflicht“, „Impfpflicht“ und so weiter aus praxeologischer (also handlungslogischer) Sicht darstellen, sind Angriffe. Es sind keine freundlichen, sondern feindliche Handlungen, die in einer liberalen Ordnung keinen Platz haben, weil eben dadurch der Einzelne in seiner Privatautonomie nicht mehr respektiert, sondern attackiert wird. Es ist dabei unerheblich, ob diese Attacken zum angeblichen Nutzen anderer sind. Jeder gewöhnliche Raub und jeder Diebstahl sind auch zum Nutzen von jemandem. Das kann kein ethisches Bewertungskriterium sein. Eine Attacke wird auch dann nicht ethisch besser, wenn sie „wissenschaftlich fundiert“ ist, denn die Wissenschaft kann lediglich objektiv feststellen, was ist, aber niemals, was sein sollte.

Praxeologisch betrachtet hat ein Angegriffener die Möglichkeit, den Angriff abzuwehren, also sich selbst zu verteidigen, Wiedergutmachung anzustreben oder – wenn dies nicht möglich ist – den Angriff zu vergelten. Das sind, sofern sie nur eine Reaktion auf eine feindliche Handlung sind, eben keine feindlichen Handlungen, sondern friedliche, weil sie den ursprünglichen Zustand vor der Verschlechterung wiederherzustellen versuchen.

Es ist wohlbekannt, dass Rechtspositivisten hier eine andere Ansicht vertreten. Ihrer Meinung nach kann Recht einseitig begründet werden. Wie noch zu Zeiten vor der Aufklärung sind sie der Auffassung, dass das Recht „von oben“ komme. Das Einzige, was sich hier geändert hat, ist, dass dieses „oben“ jetzt nicht mehr durch Kirchenvertreter repräsentiert wird, sondern durch Politiker. Rechtspositivisten sind der Ansicht, dass diese „Politiker da oben“ „uns hier unten“ zu etwas „zwangsweise verpflichten“ können, sofern dies nur auf formaljuristisch korrekte Weise geschieht. Insofern deuten sie den staatlichen Angriff auf den Einzelnen nicht als Angriff. Vielmehr glauben sie, dass man den unfolgsamen Einzelnen mit weiteren Zwangsmaßnahmen drangsalieren sollte und für seinen Ungehorsam bestrafen müsse. Doch eine solche Sichtweise ist eben eine zutiefst antiaufklärerische, inhumane und illiberale.

Es leuchtet ein, dass anstelle von Zwang oftmals von einer Pflicht gesprochen wird, weil sich eine Pflicht einfach sanfter anfühlt, es in den Köpfen der Gezwungenen weniger brachial und angenehmer klingt und sich der Befehl der Politiker so einfacher durchsetzen lässt. Man sollte diesen Begriff daher konsequent als falsch zurückweisen, wenn es sich tatsächlich um Zwang handelt. Das hilft dabei, eine klarere Vorstellung vom Vorgang zu erhalten.


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