Libertäre Philosophie – Teil 5: Konservative Ordnung gebildeter Zivilisten
Der chinesische Konfuzianismus
von Stefan Blankertz
Für die chinesische Philosophie und Politik beherrschend wurde nicht der Daoismus von Laotse, der sich dafür schlecht eignete, sondern die Lehre des Konfuzius, 551 bis 479 vor Christus. Wobei das, was unter der Lehre des Konfuzius firmiert, nicht aus seiner Feder stammt. Während man von Laotse zwar nicht weiß, wer er war, jedoch die Schrift vermutlich auf einen einzigen Autor zurückgeht, weiß man über die Biographie von Konfuzius recht viele Details, aber es gibt keine einzige Schrift von ihm. Alles Schriftliche ist erst rund hundert Jahre später niedergelegt worden. Zum Vergleich: Sokrates’ Dialoge hat Platon, ein Zeitgenosse, aufgezeichnet, dennoch sagt man, man wisse nicht so genau, was nun Sokrates wirklich gelehrt habe. Die Evangelien des Jesus Christus sind, je nach Ansicht der Forscher, zwischen dreißig oder siebzig Jahre nach seinem Tod entstanden, das dafür herangezogen wird, um seine Historizität zu bestreiten. Diesem Maßstab nach ist von Konfuzius nichts wirklich bekannt.
Was ist der Ausgangspunkt der Lehre, die unter dem Namen Konfuzius bekannt wurde? Während Laotse dem Fürsten mit auf den Weg gab, sich am besten im Nichts aufzulösen, gestand Konfuzius ihm einen wichtigen Platz in der Gesellschaft zu. Ordnung schaffen und gute Gesetze zu erlassen, das sei Aufgabe des Edlen und Weisen.
Aber Konfuzius erdachte genaue Vorschriften, wie die Ordnung als gute zu erhalten sei. Der Fürst (oder später: Kaiser) sollte nicht nach Gutdünken herrschen können. Die erste Barriere, die Konfuzius setzte, war der Ahnenkult. Den Ahnen sollte stets die Ehre erwiesen werden. Der Herrscher – und nach seinem Vorbild jeder Bürger – musste sich vor den Ahnen rechtfertigen und sich nach Möglichkeit in ihren Bahnen bewegen. Diese Barriere ist die des Konservatismus: keine Experimente!
Die zweite Barriere war Bildung. Es ist, als wäre etwas Platon aus Athen zu ihm herübergeweht; allerdings ist Platon später. Also müssen wir es umgekehrt sehen: Etwas Konfuzius ist aus China zu Platon nach Athen gekommen. Der Herrscher und alle Beamten müssen eine minutiöse Erziehung erhalten. Ihr Wissen haben sie in Prüfungen zu beweisen. In mancher Hinsicht ist die Bildungs- und Aufstiegstheorie des Konfuzius erstaunlich modern und passt weder zur Aristokratie noch zum Feudalismus. Seiner Meinung nach ist jeder Mensch von Geburt zur Bildung befähigt. Die Unterschiedlichkeit der Menschen stamme nicht aus der Zeit vor, sondern erst nach der Geburt: Der Grad der Bildung sei ihr Maßstab. Es gebe, so Konfuzius, keine von Geburt an privilegierten Menschen. Das Recht auf Herrschaft erwürben sie sich gerade durch ihre Bildung. Diese Bildung besteht nach Konfuzius auch nicht aus auswendig Gelerntem, sondern schließt eine intelligente Anwendung und eine tugendhafte Verwendung mit ein. Jemand, der über einen Fundus von Daten verfüge, aber moralisch versage und keine Verantwortung übernehmen könne, sollte laut Konfuzius nicht als gebildet gelten.
Diese Barriere ist bemerkenswert, weil sie implizit eine Einsicht von Konfuzius in den Machtapparat eines Staats zeigt. Der bis dahin und weiterhin ganz global in allen Staaten natürliche Weg, zur Herrschaft zu gelangen, war (ist) der Aufstieg über die militärische Karriere. Wer auf dem Schlachtfeld obsiegt, ist der King, egal, ob legal oder nicht. Der erfolgreiche Feldherr hat die besten Chancen auf den Thron. Doch Konfuzius erkannte, dass dieses gleichsam natürliche Verfahren (natürlich im Sinne der Gewaltordnung eines Staats) zwar die stärksten, nicht aber die weisesten Menschen an die Spitze bringt. Konsequent trennte Konfuzius streng zwischen ziviler und militärischer Verwaltung, wobei es Militärs absolut verboten war, irgendwelche Ämter innezuhaben – ja, sogar das Militär wurde von Zivilisten geleitet.
Dies begrenzte nicht nur die politische Machtentfaltung, sondern auch die Schlagkraft des Militärs. Auch das war ganz im Sinne von Konfuzius. Für ihn galt nach Maßgabe seines Konservativismus ein absoluter Vorrang der Innen- gegenüber der Außenpolitik. Es ging ihm um die Konsolidierung des Landes, militärische Abenteuer und Expansionismus lehnte er ab.
Konfuzius formulierte mit seinen drei Barrieren – konservativer Ahnenkult, Bildung als Voraussetzung für den Aufstieg sowie Zivilverwaltung – eine moralische Einschränkung der Herrschaft, die in Europa erst das Christentum tausend Jahre später leistete. In der Antike galt entweder die Willkür des Gewaltherrschers oder eine Beschränkung durch Mitsprache (entweder die der Aristokratie oder die des Volks), aber keine moralische Beschränkung.
Die Daoisten machten sich stets über die rigiden Rituale der Konfuzianer lustig. Sie waren der Herrschaft sowieso abgeneigt. Aber sie erkannten nicht die Kraft der Beschränkung, die im Konfuzianismus steckte. Es ist kein Zufall, dass Mao Zedong im Konfuzianismus seinen ideologischen Hauptfeind sah. Während der Kulturrevolution hetzte er die Jugend Chinas dazu auf, die Eltern wortwörtlich zu lynchen. Das war gemessen am Konfuzianismus das größte Sakrileg, was man begehen konnte. Der Konfuzianismus stand Mao im Weg, seine Willkür über das Land herrschen zu lassen, es nach seinem Ebenbild zu formen. Auch ist es kein Zufall, dass Mao als Kind über die Mutter einem daoistisch geprägten buddhistischen Einfluss ausgesetzt war. Wenn man das antistaatliche Element aus dem Daoismus herausnimmt, lässt er sich leider leicht zu einer Vorstellung umwandeln, ohne die Fesseln der Tradition dem Land seine Willkür aufzudrücken.
Der Konfuzianismus war die perfekte Ideologie, das entstehende riesige Kaiserreich nach innen zu stabilisieren und nach außen abzuschotten. Für die folgenden tausendfünfhundert Jahre war das Konzept einer in sich geschlossenen Wirtschaft hinreichend, auch wenn der Konfuzianismus es nicht vermochte, dem Land verheerende innere Kämpfe zu ersparen. Erst die Dynamik des Kapitalismus bereitete dem Kaiserreich ein Ende. Es hatte – trotz seiner Größe wirtschaftlich ins Hintertreffen geraten und militärisch unzureichend gerüstet – dem englisch-kapitalistischen und dem japanisch-feudalistischen Imperialismus nichts entgegenzusetzen.
Der Konfuzianismus ist eine durch und durch politische Philosophie. Alles an ihr ist hingeordnet auf die Frage, wie ein Mensch sich im sozialen Herrschaftsgefüge verhält oder verhalten soll. Erkenntnistheoretische Überlegungen lagen Konfuzius fern. Aber auch die Grundlegung der Ethik folgt, von einer Metaebene aus betrachtet, einer ungefilterten Willkür. Die Regeln, die der Konfuzianismus aufstellt, erhalten keine wie auch immer geartete Begründung. Sie werden gesetzt. In diesem Sinne ist Konfuzius kein Philosoph, sondern ein Religionsgründer: Man glaubt an seine Setzungen, man folgt ihnen, man hält sie für gut, aber man kann sie nicht rechtfertigen.
In diesem Sinne laufen auch die modernen Bezugnahmen auf Konfuzius; das Gleiche lässt sich bei seinen westlichen Bewunderern beobachten: Man nimmt Setzungen, die einem gefallen, stattet sie mit der Autorität des Konfuzius aus und behauptet dann, im Einklang mit ihm das Richtige zu wollen. Das Ganze endet einfach in dem Wohlgefühl der Konformität. Aber das klappt nur innerhalb von Diskursräumen, in denen die jeweils identischen Werte gelten. Denn eine Verständigung über das, was Recht ist, kann nicht stattfinden, jedenfalls nicht mit Rückgriff auf Konfuzius.
Den Rest bilden schlichte Klugheitsregeln: Konfuzius gibt (vielleicht) den einen oder anderen Ratschlag, wie man Erfolg haben kann, der sich über die Jahrtausende bewahrheitet hat. Das mag überraschend sein. Doch es hilft nicht weiter bei der Frage, welche Gesellschaftsform rechtmäßig anzustreben sei. Konfuzius setzt eine Einigkeit darüber voraus. Er ist ein klarer Rückfall gegenüber dem Daoismus. Aber es kann noch schlimmer kommen. Dazu nächste Woche.
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