Ist der Westen am Ende?: Und: Wie dekadent sind Europa und Amerika?
Dieser Artikel beruht auf dem Abschnitt „Ortsbestimmung der Gegenwart“ im soeben erschienenen Buch „Antipolitik“

Man muss nicht gleich wie Oswald Spengler den „Untergang des Abendlandes“ (1918) verkünden oder wie jüngst Emmanuel Todd „Die Niederlage des Westens“ (2024), um zu vermuten, dass die „westeuropäisch-amerikanische Zivilisation“ sich ihrem Endpunkt nähert, ihn möglicherweise bereits erreicht, auf jeden Fall aber ihren Höhepunkt schon überschritten hat. Nicht nur Spengler hat sich mit dem Aufstieg und Niedergang von Zivilisationen beschäftigt. Das Grundmuster der Verfallsdiagnose eines Imperiums findet sich schon in Edward Gibbons sechsbändiger Reihe „Verfall und Niedergang des Römischen Imperiums“ („History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ (erster Band 1776) und in Arnold Toynbees zwölfbändiger „Study of History“. Ist es möglich, aus diesen Studien Kriterien abzuleiten, die typischerweise mit dem Niedergang einer Zivilisation verbunden sind? Wie besteht aktuell der Westen so einen Test?
Zeichen des Niedergangs
Wenn man sich diese Literatur anschaut, kommt vielleicht als der wichtigste Befund ans Licht, dass in der Periode des Aufstiegs der Drang zur Beherrschung der Umwelt dominant ist und im Niedergang die Neigung überwiegt, sich den Gegebenheiten zu unterwerfen. Von dieser Haltung ausgehend, ist es nur ein kleiner Schritt dazu, dass die Bereitschaft wächst, sich von anderen Kulturen dominieren zu lassen.
Ein weiteres Kriterium ist der Wandel von Einfachheit im Aufstieg zur Komplexität in der Phase des Niedergangs. Dies kann man direkt mit dem Politischen verbinden. Dieses spielt im Aufstieg eine geringe Rolle. Zusammenarbeit steht über Konflikt. Verständnis steht über dem Parteienstreit. Im kulturellen Niedergang dominiert das Politische und damit herrschen Zwietracht und Streit, die, zumindest unterschwellig, als Bürgerkrieg schwelen, das politische Klima vergiften und die Volkskräfte lähmen.
Eine andere Beobachtung beim Aufstieg und Fall von Nationen ist der Bezug zur Wahrheit. In der Phase des Aufstiegs dominiert der Wirklichkeitssinn. Im Niedergang herrschen Vorurteile und Parteilichkeit. Einfache Wahrheiten werden als solche nicht mehr anerkannt. Illusionen, die sich zu Wahnideen wandeln, dominieren die öffentliche Meinung und beherrschen das Denken der Massen.
Für eine Gesellschaft im Niedergang ist es typisch, dass Freiheit als Zügellosigkeit missverstanden wird und Hemmungslosigkeit als Individualismus gilt. Immoralität drängt aus dem privaten ins öffentliche Leben hinein. Individueller Anstand und Integrität schwinden. Die Korruption weitet sich nicht nur aus, sie wird sogar toleriert.
Der Respekt vor dem Eigentum schwindet. Der Staat fühlt sich frei, ins individuelle Eigentum ungehemmt einzugreifen. Die Masse als Mehrheit bestimmt, was Recht ist. Reichtum wird konfisziert, Leistungsträger werden geächtet, die Schurken geehrt. Im Niedergang ergreift der Pöbel die Macht. Die Aristokratie des Geistes hat nichts mehr zu sagen. Die Kunst degeneriert zur bewussten Hässlichkeit. Die traditionelle Religion wird von Nihilismus und Pessimismus verdrängt. Der Todeskult verdrängt die Lebenslust.
Der Zeithorizont schrumpft. Das Kurzfristige dominiert. Die Geburtenrate fällt und die Erziehung der Kinder verkommt. Heiraten und Familie geraten außer Mode, die Bevölkerungspyramide kippt. Der biologische Verfall beschleunigt den wirtschaftlichen.
Je mehr die Dekadenz um sich greift, umso weniger ist die betreffende Zivilisation dazu imstande, ihre eigene Komplexität zu bewältigen. Die intellektuelle Kraft, die technischen Fähigkeiten und die moralische Konstitution sind zu schwach, um die von den vorangegangenen Generationen aufgebaute Strukturen zu erhalten. Das wirtschaftliche und soziale Kapital verkommt. Die sich anbahnende Katastrophe wird nicht wahrgenommen. Man glaubt noch, im Überfluss zu leben und noch über die einstige Stärke zu verfügen.
In dem Ausmaß, wie im Niedergang die Zuversicht fällt und die Angst zunimmt, schwindet der Freiheitswille und das Sicherheitsdenken nimmt überhand. Mit dem Verlust des Freiheitswillens zerfällt die Selbstverantwortung. Man verlangt immer mehr vom Staat und ist immer weniger bereit, der Gemeinschaft etwas zu geben. Bequemlichkeit wird zum Leitmotiv, und in der Folge erfasst eine Epidemie der Sinnlosigkeit die Massen.
Das kontextuale Denken verfällt, das punktuelle Denken und Handeln nehmen zu. Die gesellschaftliche Kohärenz geht verloren. Von einem Problem wird hastig zum anderen gesprungen, keines aber gelöst. Personen verstecken sich hinter Instanzen. Niemand ist mehr für seine Handlungen persönlich verantwortlich zu halten. Keiner ist mehr rechenschaftspflichtig und haftbar. Politische Abenteuer und sinnlose Kriege kennzeichnen den Weg in den vollständigen Untergang.
Die zunehmende Bürokratisierung lässt die private Initiative erlahmen. Es kommt zur Gesetzesinflation. Ein immer größerer Teil der Arbeitskraft wird mit der Befolgung überflüssiger Regelungen verschwendet. Formalismus dominiert den Inhalt. Die wirtschaftliche Produktivität sinkt, die Kaufkraft schwindet.
Immer mehr Menschen fühlen sich ausgesaugt und antriebslos. Der Wohlfahrtsstaat fängt sie auf, aber ihr erbärmlicher Seelenzustand bleibt bestehen.
Hat der Westen seinen Zenit überschritten?
Kann man die europäisch-amerikanische Gegenwart in diesem Kriterienkatalog erkennen? Wenn er auf die heutige Zeit zutrifft, welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen? Der Anfang vom Ende der westlichen Zivilisation begann mit dem Ersten Weltkrieg. Er brachte die Umwertung aller Werte. Kommunisten und Nationalsozialisten wollten dem Niedergang ein anderes Gesellschaftsbild entgegensetzen und sind dabei beide furchtbar gescheitert. Eine Zivilisation kann nicht aus sich heraus das Gegenteil ihrer Grundwerte hervorbringen. Ist der Niedergang eines Reiches einmal besiegelt, kann ihn, so scheint es, nichts mehr aufhalten. Die Geschichte der Imperien der Vergangenheit scheint es zu bestätigen. Was ist von den Großreichen der Antike geblieben? Das britische Weltreich ist ebenso untergegangen wie vorher das spanische. Wird die gesamte westliche Zivilisation folgen? Der Westen wird gegenwärtig hauptsächlich noch von den Vereinigten Staaten getragen. Auf sich allein gestellt, hätte Westeuropa schon abgedankt. Die Frage muss also gestellt werden, inwieweit die oben angeführten Kriterien auch auf die USA zutreffen. Hier zeigt sich, dass eine Wende noch möglich ist. Es besteht die Chance, dass sich Amerika auf seine Wurzeln besinnt und eine libertäre Geisteshaltung wieder aufgreift. Eine solche Wende würde auch Europa wieder vorwärtsbringen.
Mit dem entsprechenden Wollen könnte aber auch Westeuropa eigenständig eine neue Renaissance herbeiführen. Auch hier käme es darauf an, inwieweit es sich auf seine Grundwerte besinnt und deren gegenwärtige Perversionen zurückweist. Richtig verstandener Individualismus, verbunden mit persönlicher Verantwortlichkeit und die Wiederbelebung des Freiheitswillens sind der Schlüssel zur Abwehr des europäischen Niedergangs. Mit weniger Staat und weniger Politik bietet sich das gesamte libertäre Gedankengut zur Lösung an.
Fazit
Es gibt keinen Determinismus in der Geschichte. Politik lässt sich ändern. Falsche Glaubenssätze können durch richtige ersetzt werden. Jeder Einzelne zählt und seien es auch nur wenige. Diese Wenigen mögen scheitern. Aber auch, wenn Europa nicht mehr zu retten sein sollte, ist die Mühe nicht verloren, denn die Mission würde dann darin bestehen, den neu aufkommenden Mächten eine freiheitliche Orientierung zu geben. Europa sollte der Welt zeigen, dass die wahren westlichen Werte größtmögliche individuelle Autonomie, umfassende Eigentumsrechte und uneingeschränkte Meinungsfreiheit sind. Der westliche Wertekanon richtet sich gegen Despotie in allen seinen Formen. Die Alternative ist schrecklich genug: Ausbreitung der Zensur und ein neuer großer Krieg würde die westliche Zivilisation endgültig der Ächtung preisgeben.
Antony P. Mueller: „Antipolitik“ (2024)
Oswald Spengler: „Untergang des Abendlandes“ (1918)
Emmanuel Todd: „La défaite de l’Occident“ (deutsch: „Der Fall des Westens“ (2024))
Edward Gibbon: „Verfall und Niedergang des Römischen Imperiums“ (1776)
Arnold Toynbee: „Study of History“ (1934/1961) – deutsche gekürzte Ausgabe: „Menschheit und Mutter Erde“ (1979)
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